»Unausgegoren und zu teuer«

Verkehrsplaner Norbert Fischer-Schlemm erneuert und erweitert seine Kritik am Verkehrsversuch auf Gießens Anlagenring
Gießen. Jede Zeit hat ihre Visionen aber auch ihre Irrtümer. Prof. Norbert Fischer-Schlemm kann mehr als ein Lied davon singen. Vorm Fina-Parkhaus weist er zur Einmündung der Bleichstraße in die Südanlage. Laut dem Generalverkehrsplan aus dem Jahr 1967 sollte hier eine mehrspurige Hochstraße über die Alicenstraße hinweg auf den Anlagenring münden. Für das Projekt, dass vom Bahnhof kommend den auch heute noch lange Staus verursachenden Bahnübergang in der Frankfurter Straße überqueren sollte, gab es 1977 bereits Baurecht, erinnert sich der Verkehrsplaner, der sich damals vehement gegen ein Betonmonster ausgesprochen hatte, gegen das das »Elefantenklo« geradezu filigran ausgesehen hätte.
Von den Dimensionen her zwar weit kleiner, aber nach Fischer-Schlemms Ansicht ähnlich fatal für den städtischen Verkehr wäre die Umsetzung der von der Stadt favorisierten Variante A des städtischen Verkehrsversuchs, der die inneren beiden Spuren des Anlagenrings für Fahrräder und Busse reserviert und den Autoverkehr auf den äußeren beiden Spuren als Einbahnstraße um die Innenstadt herumführt.
Speichen statt Kreise
Fischer-Schlemm erneuert und ergänzt vor Ort in der Südanlage, noch einmal seine bereits im Anzeiger geäußerte Kritik am Verkehrsversuch. Der sei unausgegopren und zu teuer
Im Verhältnis zum ein- und ausfahrenden Radverkehr in und aus dem Gebiet innerhalb des Anlagenrings liegt nach seiner Ansicht der Anteil der Radfahrer, die den Anlagenring derzeit benutzen, bei höchstens ein bis zwei Prozent. Statt also die tatsächlich von Radfahrern genutzten Parallelstraßen für diese auszubauen, werde hier viel Geld ausgegeben, um Radfahrern den Anlagenring erst schmackhaft zu machen, sagt der Planer. Viel wichtiger sei es dagegen, die radial auf die Innenstadt zulaufenden Radwege auszubauen und sicherer zumachen eingesetzt werden, denn die meisten Radfahrer wollten ja in die Stadt und nicht den Anlagenring umrunden, deshalb brauche man Speichen statt Kreise.
»Die Stadt verhält sich wie eine Firma, die die hohe Nachfrage nach Kochtöpfen nicht decken kann, während allein die Bratpfannen, die nur zwei Prozent des Umsatzes ausmachen in den Regalen liegen bleiben«, will er mit einem Vergleich deutlich machen. »Nun kommt der Chef auf die Schnapsidee, den Gewinn durch die Herstellung von zusätzlichen Bratpfannen zu steigern. Er baut um, schafft neue teure Maschinen an, obwohl die alten noch gut sind, setzt Personal um, obwohl die Kochtopfproduktion schon unterbesetzt ist, und wundert sich anschließend, dass nicht mehr Pfannen verkauft werden und aus seinem Gewinn ein Verlust geworden ist.«
Für den Verkehrsversuch auf dem Anlagenring seien mindestens 15 Knotenpunkte mit ihren Fahrbahnteilern und Markierungen umzubauen. Auch die Signalsteuerungen müssten zum Teil geändert werden - »obwohl die alten noch gut sind«. Dazu käme noch díe Änderung der Beschilderung. Fischer-Schlemm beharrt darauf, dass sich nach seiner Berufserfahrung die Kosten für die nötigen Umbauten auf mehr als zehn Millionen Euro belaufen werden.
Ein weiterer Kritikpunkte an der von der Stadt favorisierten Variante des Verkehrsversuchs ist für den Experten neben der deutlich steigenden Verkehrsbelastung in der Ringallee und der Ludwigstraße und den ständigen und auch nicht mehr aufzuholenden Verspätungen städtischer und regionaler Busse, die in der Gegenrichtung der geplanten Einbahnregelung des Anlagenrings künftig hinter den Radfahrern her fahren müssten, die geplante »unverständliche Führung des Kraftfahrzeugverkehrs«. »Mal muss dieser, mal darf jener nicht auf dem für den Rad- und Busverkehr freigegebenen Innenring fahren«, schüttelt er den Kopf. Das könne nur zu Chaos führen und würde auch die Unfallgefahren für Radfahrer durch das Kreuzen der Kraftfahrzeugströme erhöhen - vor allem bei Ausfall der eigens zur Sicherung des Radverkehrs vom Bürgermeister Wright angekündigten Lichtsignalanlagen.
Last but not least würde die durch die Einbahnregelung auf dem Anlagering erzwungene Fahrtrichtung zu zusätzlichen (Um-)Wegen und damit zu deutlich erhöhten Schadstoff- und Lärmbelastungen in der Innenstadt führen.
Drohende Mehrkosten
Ausdrücklich widerspricht Fischer-Schlemm der Aussage von Wright, der Vorteil eines Verkehrsversuchs sei, dass »der Verkehrsraum von Hauskante zu Hauskante nicht umgestaltet werden muss«.
Nach dem Variantenvergleich der Planersocietät ´«Gertz Gutsche Rümenkamp« vom 17. Mai seien Baumaßnahmen im Bereich der bestehenden Knotenpunkte mit den erforderlichen »Anpassungen der Mittelinseln« notwendig. Auch enthalte der »Variantenvergleich« mehrere Darstellungen erforderlicher Umbauten. »Ich kann dem Magistrat nur empfehlen, einmal in diese Unterlagen zu schauen.«
Bürgermeister Wright habe Recht, wenn er sichere Wege für den Radverkehr schaffen wolle, um mehr Menschen zum Umstieg vom Auto aufs Rad zu bewegen, betont der Experte. In Anbetracht der angespannten Finanzlage« der Stadt Gießen sollten aber auch Politiker Prioritäten setzen und mit dem radial geführten Radverkehr in die Innenstadt beginnen und Radwege in den Straßen der Innenstadt markieren, die heute ohnehin schon von vielen Radfahrern genutzt werden.
Fischer-Schlemm befürchtet, dagegen, dass die durch eine Einbahnregelung auf dem Anlagenring« erzwungene Verlagerung des Kraftfahrzeugverkehrs auch auf Wohnstraßen und den sich daraus ergebenden Gefahren Anwohner, die derzeit das Rad für Fahrten in die Innenstadt nutzen, lieber mit dem Auto zu einem der Märkte außerhalb der Stadt fahren. »Der Abteilungsleiter »Bratpfannen« würde sagen: »Chef, jetzt waren wir aber eher kontraproduktiv«. Aber wer in einer Verwaltung wagt es schon, sich das einzugestehen, resümiert der Verkehrsplaner.