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»Und dann kam der Krieg«

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Von: Björn Gauges

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Einmal Stahl, einmal Acryl: Die beiden Arbeiten sind derzeit in der Kirche St. Thomas Morus zu sehen. Fotos: Reiter, Gauges © Reiter, Gauges

Landwirt, Mediziner, Künstler: Der Gießener Alfred Reiter zeigt seine Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Kirche St. Thomas Morus.

Gießen. Der Umgang mit dem Sterben war für Alfred Reiter lange Zeit ein Teil seines beruflichen Lebens. Bis zu seinem Ruhestand 2014 leitete der Medizin-Professor die Abteilung Kinderonkologie am Universitätsklinikum Gießen. Doch während in einem Krankenhaus um das Leben, um das Weiterleben gekämpft wird, ist das Verhältnis zum Tod an anderen Orten, zu anderen Zeiten ein ganz anderes - etwa eins der pathetisch-schwülstigen Verklärung.

Bei einer Radtour durch Brandenburg entdeckte Reiter vor einigen Jahren einen schönen kleinen Dorffriedhof - und stand dort plötzlich vor einem Denkmal für Kriegsgefallene. Dessen Inschrift lautete: »Gott ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn«. Ein Satz, der ihn in seiner ganzen zynischen Weltverneinung nicht mehr losließ. Und der zum Ausgangspunkt eines Kunstwerks wurde, dass angesichts seiner traurigen Aktualität nun zusammen mit einem zweiten Werk Reiters in der Gießener Kirche St. Thomas Morus zu entdecken ist.

Sätze auf Kriegerdenkmälern

Der begeisterte Fahrradfahrer entdeckte auf seinen regelmäßigen Touren durchs Land fortan immer wieder solche Soldatendenkmäler, die er fotografisch festhielt und deren Inschriften er in drei Kategorien unterteilte: »Viele sind verklärend, überraschend viele sind mahnend. Und manche sind unsäglich.« Das Thema schien dem Mediziner damals allerdings wie »aus der Zeit gefallen, ich habe es zur Seite gelegt.« Doch dann begann der Krieg in der Ukraine.

So entstand ein Bildmotiv, für dass er die gesammelten Textinschriften auf einer metallen glänzenden Leinwand anordnete, in einer typographischen Form, die die Schrift nahezu abstrakt wirken lässt. Die unterschiedlichen Tonlagen der Zitate bilden dabei ein großes Ganzes. » Erbarme dich unserer Schuld « lässt sich ebenso entziffern wie » Das Vaterland muss leben und wenn wir sterben müssen «, aber auch » Unsere Kriegstoten mahnen zum Frieden «.

»Ich bin kein Pazifist«, betont der gebürtige Saarländer. »Die Freiheit braucht auch ihre Verteidigung.« Zudem wolle er mit seinem titellosen Kunstwerk keine Stellungnahme pro oder contra Waffenlieferungen an die Ukraine abgeben. Zugleich wendet er sich damit aber »gegen die Nonchalance, mit der hierzulande wieder über den Krieg gesprochen wird«. Etwa, wenn es um die Lieferung von Leopard-Panzern gehe. Zugleich gebe es in Russland wieder die unsäglichen, wie aus der Zeit gefallenen Sätze vom Heldentod zu hören, mit denen Wladimir Putin etwa den Müttern von gefallenen Soldaten begegnet. »Das macht einen sprachlos.«

Auch wenn Alfred Reiter, Jahrgang 1948, als Mediziner intensiv mit dem bisweilen unheilbaren Krebs zu tun hatte, »ist es nicht so, dass mich der Tod grundsätzlich in einem besonderen Maße beschäftigen würde«, betont er. Zu sehen ist das an seinem zweiten Bild, das in der Kirche nicht nur wegen des Formats gut zu Ersterem passe, wie er festgestellt hat. Es ist eine in Acryl auf die Leinwand gebrachte Abstraktion in erdigen Farben, zu dem ihm der herbstliche Laubboden bei einem Waldspaziergang durch den Dannenröder Forst inspiriert hat. Denn auch Farbe ist ihm nicht fremd.

So sind es zwei ganz unterschiedliche Auseinandersetzungen mit der bildenden Kunst, zu der Reiter über einige Umwege gefunden hat. Geboren und aufgewachsen im Saarland, übernahm er nach seiner Ausbildung zum Landwirt (»Da bin ich heute noch stolz drauf, lacht er) zunächst den elterlichen Hof, ehe er das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg absolvierte, Medizin studierte und schließlich in Hannover als Kinderarzt sowie in der Forschung arbeitete. 1999 kam er nach Gießen, um die Leitung der Kinderonkologie am Universitätsklinikum zu übernehmen. »Ein Beruf, der viel Zeit in Anspruch nahm«, wie er erzählt.

Doch nach dem Beginn des Ruhestands 2014 fiel er nicht etwa in ein Loch, sondern »wollte noch einmal etwas ganz Neues machen«. Fasziniert zeigte sich der kunstaffine Mediziner von der Wirkung, die Stifte und Pinsel auf seine jungen Patienten ausübten. »Es ist einfach schön, was das Malen mit Kindern macht«, sagt er. » Da blieb etwas hängen.«

So begann der Fan des Sprengel-Museums in Hannover ein Studium in Malerei und Graphik an der Freien Akademie der Bildenden Künste in Essen, das er 2021 mit dem Prädikat Meisterschüler abschloss. Im eigenen Atelier in Kleinlinden entwickelte der Vater dreier erwachsener Söhne zugleich eine Technik, die er auch für das Bild in St. Thomas Morus anwandte. Dazu nutzte er Farbpigmente aus Metall, die er in unterschiedlichen Schattierungen auf eine Sperrholzplatte aufbrachte, und die dem Werk eine von silbern schimmernd bis schwarz reichende Farbanmutung geben. Die beiden Bilder, so wünscht es sich der Künstler, können etwa zum Nachdenken oder Diskutieren anregen. In welchem Verhältnis stehen wir heutzutage zu Krieg? Dazu kann Reiters Kunst eine Anregung geben.

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Künstler Alfred Reiter. © Björn Gauges

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