Ungeheuerliche Annäherung

»Der ideale Künstler wäre ein Ungeheuer«, schrieb Heinrich Mann und dachte dabei an Gustave Flaubert. Dass der Mensch mit »Ungeheuer« meist Drachen, Werwölfe, Gorgonen, Mumien oder andere Monster assoziiert, mag Flaubert nicht zum Vorteil gereichen, aber die Stoßrichtung Manns ist klar. Wer ein Werk schafft, wie Flaubert es tat, kann dem gemeinen Menschen nicht geheuer sein.
So wie Baudelaire, Rimbaud, Huysmans oder Celine, so wie, um über die Landesgrenze zu wechseln, Benn oder Spengler, Wittgenstein oder Arno Schmidt.
Dass Gunnar Decker nun Michel Houellebecq mit der Zuschreibung »Das Ungeheuer« dem Leser näherbringen will, ist so gesehen das größte Lob für einen noch lebenden Schriftsteller, gleichzeitig aber auch Bürde - und Programm der, das sei vorweg bemerkt, großartigen Annäherung an den derzeit wohl wirkungsmächtigsten Schriftsteller Europas. Michel Houellebecq muss uns dabei als Mensch und Künstler wie ein Ungeheuer erscheinen. Schon seine sich allen gesellschaftlichen Konventionen entziehende Gestalt, rücksichtlos der Selbstausbeutung sich hingebend, bei öffentlichen Auftritten meist verlottert und abweisend ungepflegt, ist ungeheuerlich. Und sein Werk ist es umso mehr, dabei aber durchaus auch eines, das zumindest in Teilen massenkompatibel ist.
Houellebecq hat Ungeheures geschaffen, indem er seine Zeit, die ein Jahrhundert nach Walter Benjamins »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« längst nicht mehr abbildbar erscheint, in ungeheuerlichen Romanen sichtbar macht. Schmerzhaft sichtbar. Und mit Eiseskälte seziert. Alles ist Krankheit, alles in Auflösung begriffen, alles ist - vor allem aber auch - käuflich.
Die paradigmatischen Texte Houellebecqs findet man in seinen Essays, so in »Die Welt als Supermarkt« (und Hohn). Sie weisen den Weg ins Werk so wie auch Gunnar Decker, der sich chronologisch an Houllebecqs Büchern entlanghangelt. Houellebecq ist ein Dichter, er hat ein umfangreiches lyrisches Werk verfasst, er ist ein Romantiker, er ist ein zum Nihilismus konvertierter enttäuschter Idealist, er ist einer der bedeutendsten und kenntnisreichsten Kritiker des (turbo-)kapitalistischen Irrsinns. Er ist alles, nur nicht greifbar, aber im besten Sinne das, was Ingeborg Bachmann schrieb: »Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die anderen, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar.«
Insofern ist Houellebecqs Literatur wahrhaftig. Und Gunnar Decker ihm auf der Spur. Man merkt dem promovierten Philosophen an, dass er in Houellebecqs Kunst vernarrt ist. Auch wenn es ungeheuerlich scheint, ist das nicht der schlechteste Weg, uns den Schriftsteller und Menschen nahezubringen, auch wenn, wie etwa bei Houellebecqs Lobrede auf Donald Trump, nicht jede Volte Deckers zu dessen Verteidigung nachvollziehbar ist. Nichtsdestotrotz: Gunnar Decker hat ein ungeheuer erhellendes und bereicherndes Buch über Michel Houellebecq geschrieben, ein Muss für jeden, der die Literatur des Franzosen schätzt. Mit einem Makel, der nicht dem Autor anzulasten ist. Eine ungeheure Zahl an Rechtschreib-, Tipp- und sogar sachlichen Fehlern ist dem Lektorat entgangen. Ungewöhnlich für die Bücher bei Matthes&Seitz. Aber es gibt sie eben nicht - die ideale Kunst.
Gunnar Decker: Houellebecq. Das Ungeheuer. 270 Seiten. 22 Euro. Matthes&Seitz.