»Unsere Gesundheit ist gefährdet«

Das Kollegium der Gesamtschule Gießen-Ost schlägt Alarm und wendet sich mit einer Überlastungsanzeige an das Hessische Kultusministerium. Die genannten Gründe sind vielfältig.
Gießen. Die Gesamtschule Gießen-Ost (GGO) kennt seit Jahren vor allem positive Schlagzeilen, wenn es um ihre pädagogisch-konzeptionelle Arbeit geht. Beliebtheit und Akzeptanz drücken sich dabei stets auch in hohen Anmeldezahlen aus. In Gießens Schullandschaft zählt sie damit wiederholt zu den Favoriten. Doch der Erfolg hat offenbar seinen Preis, denn nun schlägt der Personalrat Alarm und hat sich mit einer Überlastungsanzeige ans Hessische Kultusministerium gewandt. Das Kollegium der GGO stoße »an die Grenzen der Belastbarkeit«, die Gesundheit sei »aufgrund starker und steigender physischer sowie psychischer Arbeitsbelastung gefährdet«, heißt es darin. Die genannten Gründe sind vielfältig, haben mit Personalmangel, zunehmenden dienstlichen Verpflichtungen, wachsendem Förderbedarf und administrativen Aufgaben zu tun. Lobend erwähnt wird nur, dass die Stadt als Schulträger »große Anstrengungen« unternommen habe, um alsbald zumindest die »räumliche Ausgestaltung« zu verbessern.
Adressiert ist das Schreiben, das dem Anzeiger vorliegt, außerdem an die Schulleitung, das Staatliche Schulamt, Elternbeiräte und die im Landtag vertretenen Parteien. Die Linke in Hessen etwa sieht in dem Appell »nur die Spitze des Eisbergs eines kaputtgesparten Bildungssystems«. Und auch die heimische SPD-Landtagsabgeordnete Nina Heidt-Sommer attestiert eher grundsätzliche Defizite: »Schulen werden konsequent und gezielt überfordert. Das Problem ist strukturell. Die Landesregierung muss die Arbeitsbedingungen verbessern und für Entlastung an allen Schulen sorgen.«
»Die Zukunft braucht Dich - als LehrerIn«: So wirbt das Kultusministerium für das Lehramtsstudium. Versprochen werde ein Beruf, der familienfreundlich sei und Aufstiegschancen biete, erinnert der Personalrat der GGO. Und fügt hinzu: »Leider stimmt das nicht mit der Realität überein.« Zwar werde viel Engagement in die Akquirierung neuer Lehrkräfte gesteckt, die bereits aktiven Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich indes vernachlässigt. »Wir geben unser Bestes, wollen allen Anforderungen des Schulalltages gerecht werden und können auch mit schwierigen Schüler*innen umgehen. Nicht immer erwarten wir Dank dafür, aber etwas mehr Respekt und bessere Arbeitsbedingungen wären wichtig«, lautet das Fazit.
An der Integrierten Gesamtschule (IGS) mit gymnasialer Oberstufe können drei verschiedene Abschlüsse gemacht werden. Zurzeit wird die GGO von circa 1500 Schülerinnen und Schülern besucht. Allerdings wird befürchtet, ihnen könne nicht mehr »die optimale Unterrichtsqualität, Betreuung, Beurteilung und Aufsicht« zuteil werden. Die »eigentliche, pädagogisch wertvolle Arbeit« leide und lasse sich nicht mehr mit der erforderlichen Sorgfalt gewährleisten.
Lerndefizite und nachlassende Lernmotivation
Das liege auch an einer heterogener werdenden Schülerschaft, die von Hochbegabten bis zu Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, emotionaler und sozialer Entwicklung sowie körperlichen Beeinträchtigungen reiche. Gleichzeitig gäben Eltern immer mehr Erziehungsverantwortung an Schulen ab, durch Inklusion und infolge der Distanzbeschulung während der Pandemie steige zudem der Anteil derjenigen, die einer besonderen Unterstützung bedürfen - vom damit verbundenen Kommunikationsaufwand mit Jugendamt, Therapeuten, Ärzten und Familienhelfern ganz zu schweigen. Obendrein korrespondierten fachlich stärker ausgeprägte Lerndefizite mit einer »spürbar nachlassenden« Lernmotivation. »Bei einer Klassenstärke von 27 und mehr Lernenden sind die Klassenleitungen kaum mehr in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen.« Schwer hinzunehmen sei ferner, »dass in diesem Jahr die Stunden aus dem Sozial- und Integrationsindex für unsere Schule stark gekürzt wurden« - mit der Begründung, sie würden wegen der »hohen Aufnahme« von Geflüchteten an anderen Schulen dringender benötigt. »Wir empfinden es als problematisch, dass solche Ressourcen nicht dem Bedarf entsprechend erhöht, sondern nur umverteilt werden«, moniert das Kollegium.
Ein weiterer Kritikpunkt sind »übergroße Kurse« zum Beispiel in der achtzügigen Jahrgangsstufe 11, in denen teils wichtige Unterrichtszeit dadurch verloren gehe, dass zunächst Tische und Stühle organisiert werden müssten. Ein »erheblicher Korrekturdruck« resultiere wiederum daraus, dass die Abiprüfungen in die Zeit nach den Osterferien verlegt worden seien. Und es sei enorm herausfordernd, die Vielzahl mündlicher Abiturprüfungen und zusätzlich den »Unterricht in gewohntem Maße« zu bewältigen.
Selbst die Einzug haltende Digitalisierung bereite bisweilen Schwierigkeiten, weil die Technik oft nicht wie vorgesehen funktioniere oder der Einsatz digitaler Endgeräte dazu führe, dass vermehrt unzulässige Hilfsmittel genutzt würden. Daran müssten die Schüler gehindert werden, was selten ohne Konflikte ablaufe.
Hinzu komme, dass aufgrund des Personalmangels »bei längerfristigem krankheitsbedingtem Ausfall von Lehrkräften keine adäquate Vertretung gefunden werden kann«. Zum Teil würden betroffene Lernende auf andere Gruppen verteilt, die sich folglich wieder vergrößern. »In anderen Fällen werden Personen eingesetzt, die nicht voll ausgebildet sind oder quer einsteigen.« Für die intensive Begleitung und Beratung von Lehrkräften im Vorbereitungsdienst oder Praktikanten fehle ebenfalls ein angemessener Ausgleich.
Pflichtstundenzahl soll reduziert werden
Um sich wieder zuvörderst »mit viel Hingabe und Kraft« der Bildung der Schüler widmen zu können, werden vom Kollegium unter anderem folgende Forderungen erhoben: Die Pflichtstundenzahl für die Schulform IGS müsse reduziert und die Klassengröße abgesenkt werden. In der Sekundarstufe II seien für Klassen, Leistungs- und Grundkurse Minimal- und Maximalgrößen festzulegen. Klassenleitungen, Lehrkräfte und Mentoren müssten gemäß den pädagogischen Erfordernissen entlastet werden. Es brauche zusätzliche Förderlehrkräfte und sozialpädagogische Fachkräfte, den Ausbau der Beratungs- und Förderzentren sowie landesweit verbindliche Korrekturtage. Abgeschafft gehörten »ziellose und intransparente Lernstandserhebungen«, ebenso seien abiturrelevante Inhalte zu »entschlacken«.
Schulleiter Dr. Frank Reuber versichert auf Anfrage des Anzeigers, sich der hohen Arbeitsbelastung aller Kolleginnen und Kollegen bewusst zu sein. Die Situation sei an einer IGS mit dem Profil der GGO sicherlich nochmal eine besondere. Gerade auch die dort »gelebte Haltung und Wertschätzung« gegenüber den Schülern beanspruche viel Zeit. Gleichwohl nehme er aber die »Belastungsanzeichen wahr und ernst«. Seit Monaten mache man sich »Gedanken über Entlastungsmöglichkeiten, die im schulischen Bereich zu einer Arbeitsverbesserung führen können«. Erste Ergebnisse seien auf der Gesamtkonferenz am 24. April vorgestellt worden. »Und ich bin mir sicher, dass wir diesen Weg gemeinsam mit Kollegium, Schulleitung und Personalrat weiter erfolgreich gehen werden.«
Das Kultusministerium erklärte lediglich, »Überlastungsanzeigen grundsätzlich sehr ernst zu nehmen«. Deshalb befinde sich das Staatliche Schulamt bereits mit der GGO »in einem intensiven Austausch«. Schulamtsleiter Norbert Kissel hatte zuvor mitgeteilt, sich zunächst mit dem Ministerium rückkoppeln zu wollen. Schuldezernentin Astrid Eibelshäuser verwies darauf, dass in erster Linie Aspekte thematisiert worden seien, für die nicht der Schulträger zuständig sei. Unabhängig davon stimme sich die Stadt »regelmäßig und sehr produktiv« mit der Schulleitung ab. Auch für ein Gespräch mit der Personalvertretung stehe man, falls gewünscht und sofern dies Anliegen betreffe, die der Schulträger zu verantworten hat, zur Verfügung.