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Verblendung, Profitgier oder beides

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Im März 1933 wurden verhaftete Nazigegner durch Gießen getrieben. Archivfoto: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt © Red

Ein Vortrag eines Lokalhistorikers widmete sich der Verdrängung und Beraubung jüdischer Schuhhändler ab 1933 aus Gießen.

Gießen. War es ideologische Verblendung, reine Profitgier - oder eine fatale Mischung aus beidem? Darüber lässt sich knapp 90 Jahre danach nur noch spekulieren. Fakt ist, dass sich verschiedene Gießener Schuhhändler nach der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 skrupellos am Leid ihrer jüdischen Kollegen zu bereichern versuchten. Der Geschichtsstudent Peer Pröve hat in seiner Bachelor-Arbeit untersucht, wie die Ausgrenzung und Enteignung (im Nazi-Jargon: »Arisierung«) jüdischer Einzelhändler in der Stadt ablief. Auf Einladung des Oberhessischen Museums stellte er seine Forschungsergebnisse am Donnerstagabend in der evangelischen Pankratiusgemeinde vor.

Enteignung ging rasend schnell

Pröve nahm sich für seine lokalgeschichtliche Untersuchung ganz bewusst die Situation der Schuhhändler vor. Denn die eröffnen laut des Vortragsgastes einen anschaulichen Blick auf das Klima der ab 1933 einsetzenden Judenverfolgung in Gießen. Einer Stadt, in der Bürger jüdischen Glaubens im Jahr 1925 rund drei Prozent der Bevölkerung ausmachten. Sie galten großteils als gut integriert und dem Mittelstand zugehörig. Umso mehr irritieren muss, wie schnell sie zur angefeindeten und ausgenutzten Zielscheibe wurden. Ihre Verdrängung wurde laut Pröve »zur sozialen Praxis«.

17 Schuhgeschäfte gab es zu Beginn des Jahres 1933, die zumeist im Seltersweg oder in der Bahnhofstraße angesiedelt waren. Sieben dieser Geschäfte waren im Besitz von Kaufleuten jüdischer Konfession. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis wurden sie verschiedenen Repressalien ausgesetzt und etwa nicht mehr von der Post beliefert. Zudem wurde den Bürgern öffentlich nahegelegt, nicht mehr bei Juden einzukaufen. So warb eine Anzeige, für die sich mehrere »arische» Händler zusammengetan hatten, bereits 1934 im Gießener Anzeiger mit dem perfiden Satz: »Deutsche Schuhe vom deutschen Kaufmann«.

Wie Pröve anschaulich zeigte, spürten die jüdischen Schuhhändler diesen Druck auf ihre zum Teil alteingesessenen Geschäfte unmittelbar und mit großer Wucht. Zwei dieser Händler griff sich der Historiker für seinen Vortrag heraus. Zum einen das Schuhhaus Meyer in der Bahnhofstraße 30. Geführt wurde es vom Ehepaar Siegfried und Sophie Meyer, das sich angesichts der Repressionen und des damit einhergehenden Umsatzeinbruchs »vermutlich schnell entschlossen hat, aufzugeben«. Profiteur dieser »Arisierung« wurde ein Konkurrent namens Sebastian Dipp, der 1936 zugleich die Immobilie der Familie übernahm und sie mit einem »Spottpreis« abspeiste.

Doch nicht einmal diese geringen, weit unter Marktwert befindlichen Erlöse konnten die jüdischen Gießener wie die Familie Meyer in die Emigration mitnehmen, wie Peer Pröve schilderte. Verschiedene institutionelle Repressionsinstrumente wie eine sogenannte »Reichsfluchtsteuer« raubte den Menschen quasi jede finanzielle Gegenleistung. Wie Pröve berichtete, konnte angesichts dieser Ausgangslage wohl keiner der vertriebenen Schuhhändler in der Emigration an die häufig erfolgreiche Arbeit als Gießener Einzelhändler anknüpfen.

Die brachialen Methoden der Enteignung zeigte der 25-Jährige auch anhand eines zweiten Falls: dem des großen Schuhhauses Süss in der Marktstraße 9/11. Geführt wurde es von Ferdinand Krämer sowie dessen Sohn Hans. Beide gerieten bald ins Fadenkreuz zweier Konkurrenten, die »den jeweils größten Profit aus der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der jüdischen Eigentümer zu schlagen« versuchten, wie Pröve formulierte. Diese Rivalität zwischen dem zunächst als Käufer fungierenden Martin Brackelsberg, einem NSDAP-Mitglied, sowie dessen Gießener Konkurrenten Edmund Darré führte laut des Historikers bis zur Einschaltung der Landesregierung sowie einer Beschwerde Brackelsbergs beim Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht. Dennoch setzte sich Darré laut Pröve am Ende durch, indem er einen Frankfurter namens Karl Baier vorschob: ein von ihm »kontrollierter Käufer«, mit dem Darré verhindert habe, »dass ein weiterer Konkurrent den Markt betritt«.

So sei schließlich am 1. August 1936 durch die »Arisierung« des Schuhhauses Süss durch Karl Baier und unter Beteiligung von Darré das letzte »jüdische« Schuhhaus Gießens verschwunden. Zu einem Zeitpunkt also, an dem die berüchtigte Reichspogromnacht mit der Plünderung jüdischer Geschäfte am 9. November 1938 noch mehr als zwei Jahre bevorstand.

Das Resümee des Historikers fällt angesichts dieser rasend schnellen Vertreibung der jüdischen Schuhhändler aus Gießen bitter aus: Zum einen war deren Verdrängung Teil eines Systems, das den Zivilisationsbruch der Shoa »möglich gemacht hatte«. Zum anderen hatte die Aneignung der Geschäfte und zumeist auch zugehörigen Immobilien für die Täter kaum Folgen. Laut Pröve blieben die Eigentümerrechte nach dem Krieg unberührt, Entschädigungen an die Vorbesitzer wurden zumeist kaum gezahlt. Und viele Jahre lang seien die Schicksale der jüdischen Schuhhausbesitzer beschwiegen worden.

Kaum Folgen nach dem Krieg

Peer Pröve betont daher, wie wichtig es sei, dass dieses Stück Lokalgeschichte weiter transparent aufgearbeitet werde. Ein erster Schritt sei die Erwähnung und Anerkennung der jüdischen Schicksale: »Transparenz ist sehr wichtig. Es bleibt noch viel zu tun.« Dr. Julia Schopferer vom einladenden Oberhessischen Museum versprach abschließend, dass es ein »umfassendes Bild« der Ereignisse in der neu zu konzipierenden Dauerausstellung des Hauses geben solle.

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Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 begann die Verdrängung jüdischer Einzelhändler aus der Gießener Innenstadt. Foto: Oberhessisches Museum © Oberhessisches Museum

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