Verzögerung, »aber kein Stillstand«

Der Lern- und Erinnerungsort im früheren Notaufnahmelager in Gießen wird erst Ende 2024 eröffnen - ein Jahr später als geplant. Was sind die Gründe und was ist bereits geschehen?
Gießen. Mehr als vier Jahrzehnte hat Gießen in der deutsch-deutschen Geschichte eine ganz maßgebliche Rolle gespielt. Das ehemalige Notaufnahmelager im Meisenbornweg gilt daher zu Recht als herausragender - zumal authentischer - Ort von nationaler Bedeutung. Bis diesem Stellenwert mit dem geplanten Lern- und Erinnerungsort Rechnung getragen werden kann, dauert es nun aber noch etwas länger als angekündigt.
Die Gedenkstätte, in der unter anderem eine Dauerausstellung untergebracht werden soll, wird nämlich nicht mehr 2023, sondern voraussichtlich »bis Ende 2024« eröffnen. Dann könnten »mit einem ersten Personalstamm auch erste Bildungsprogramme« angeboten werden, teilt Dr. Alexander Jehn, Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung (HLZ), auf Anfrage des Anzeigers mit. Dass sich der Start verschiebt, liege an den »Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges auf die Baubranche«. Beispielsweise seien »detailliertere Bepreisungen der notwendigen Leistungsverzeichnisse für die Bauvergabeverfahren« erforderlich gewesen, um eine bessere Kostensicherheit zu gewährleisten. Dies habe wiederum die Vergabeprozesse aufwändiger gemacht und verlängert. »Zudem sind die Möglichkeiten der inhaltlichen Recherchen in Archiven eingeschränkt worden.«
»Frontposition im Kalten Krieg«
Trotz der Verzögerung gebe es keinen Stillstand, betont Jehn. Das Projekt entwickele sich bislang positiv, »nicht zuletzt dank eines vertrauensvollen konstruktiven Drahtes zum Magistrat und der Stadtverwaltung« sowie der »großartigen Zusammenarbeit« mit dem Landesbetrieb Bau und Immobilien Hessen (LBIH).
Zwischen 1946 und 1990 war die Stadt an der Lahn für 900 000 Menschen aus der DDR und den einstigen Vertreibungsgebieten »Sehnsuchtsort« und die erste Station in ein neues Leben - sozusagen das »Tor zur Freiheit«, zu Selbstbestimmung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Alexander Jehn spricht von Gießen als einer »Visitenkarte der Menschlichkeit«.
Wer in Gießen eintraf, hatte einiges auf sich genommen, teils unter Lebensgefahr große staatliche Widerstände überwunden und allzu oft auch Familie und Freunde zurücklassen müssen. Die Stasi betrachtete das Notaufnahmelager, das ab Mitte der 1980er Jahre bis zur Wiedervereinigung Zentrale Aufnahmestelle hieß, angesichts seiner »Frontposition im Kalten Krieg« als »Feindobjekt«. Später als Unterkunft der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung kamen dort Flüchtlinge aus den Krisenregionen in aller Welt an.
Als 2018 die Entscheidung fiel, den Meisenbornweg als Standort der Erstaufnahme zu schließen und die Kapazitäten komplett in die Rödgener Straße zu verlagern, endete nicht nur eine Ära, sondern es war auch schnell klar, dass nun ein neues Kapitel aufgeschlagen werden könnte, mit dem sich das Profil Gießens in der hessischen und deutschen Erinnerungslandschaft nachhaltig schärfen lässt. Der Bund und das Land Hessen investieren dafür 5,5 Millionen Euro. Das Geld fließt in bauliche, infrastrukturelle und rekonstruktive Maßnahmen, aber ebenso in digitale und interaktive Elemente. Die Besucherinnen und Besucher sollen einen Zugang zur Lebenswirklichkeit der Geflüchteten, Aussiedler und Übersiedler bekommen, erläutert Jehn.
Workshops mit Lehrkräften
Nach gegenwärtigem Zeitplanung seien erste bauvorbereitende Aktivitäten, »die nach Räumung des Gebäudes aus Entkernungs- und Abbrucharbeiten im Innern bestehen werden, ab Spätsommer 2023 vorgesehen«, so der HLZ-Direktor. Danach könne mit den Baumaßnahmen und Installationen begonnen werden. Die Dauerausstellung solle dann im Sommer und Herbst 2024 eingerichtet werden.
In baulicher und räumlicher Hinsicht würden momentan zum Beispiel etliche Entwurfs-, Ausführungs-, Ausstattungs- und Detailplanungen durchgeführt. Für die inhaltliche Arbeit sei vor einem Jahr ein Redaktionsteam beauftragt worden, um in Archiven und nach Zeitzeugen zu recherchieren sowie Themen, Materialien und Exponate für den Prolog (Frühphase nach dem Ende des Krieges) und den Hauptteil (SED-Diktatur, Ankommen und Leben im Lager) der Ausstellung zu sammeln, berichtet Alexander Jehn.
In einem nächsten Schritt sollen die Ergebnisse Gutachtern und einem bereits berufenen Gießener Expertengremium vorgelegt werden. Es besteht aus Dr. Katharina Weick-Joch, Leiterin des Oberhessischen Museums, Stadtarchivar Dr. Christian Pöpken und seinem Vorgänger Dr. Ludwig Brake, Dr. Georgia Rakelmann, Kuratorin und Vorstand von »Transit Gießen e.V.«, sowie den beiden Vorsitzenden des Fördervereins Lern- und Gedenkort Notaufnahmelager Gießen. Abschließend werde noch der Epilog (die jüngste Phase bis zur Schließung 2018) behandelt und ausgearbeitet. Teil der zu entwickelnden Feinkonzeption ist auch die Frage, wie der historische Ort im Außenbereich »bespielt« werden kann. Darüber hinaus haben inzwischen zwei Workshops mit Lehrerinnen und Lehrern aus Gießen und Umgebung stattgefunden, »um die Bedarfe von Lehrkräften für die Ausstellung und die pädagogischen Programme möglichst nutzernah zu ermitteln«; weitere sollen folgen.
Zustand von 1964
Die Dauerausstellung wird sich auf die Zeit von 1950 bis 1990 konzentrieren. In den Fokus rücken hier vor allem die Jahre 1963/64, als die Einrichtung faktisch zum zentralen Notaufnahmelager der Bundesrepublik avancierte. Dazu gehört auch, das Pförtnerhäuschen (und weitere Gebäude) in den Zustand von 1964 zurückzuversetzen und als Schauvitrine zu gestalten. Als Grundlage dienen vollständig erhaltene Baubücher, die sehr gute fotografische Dokumentation und die Befundaufnahme einer Restauratorin.
Ein didaktischer Schwerpunkt wird in allen Epochen auf die persönlichen Erzählungen der Zeitzeugen und Protagonisten gelegt, die dazu beitragen sollen, selbst auch die einzelnen Schritten des Aufnahmeverfahrens nachvollziehen zu können.