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Verzweifelt zwischen Leben und Tod

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Von: Heidrun Helwig

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giloka_2701_stolperstein_4c_1 © Benjamin Lemper

Die jüdische Familie Abraham aus Gießen hat ein schier unfassbares Schicksal ereilt. Drei Geschwister konnten durch Emigration ihr Leben retten. Adolf, der älteste Bruder, aber starb in der Gaskammer.

Gießen . Für sein Vaterland war Adolf Abraham voller Tatendrang in den Großen Krieg gezogen. Doch auf den Schlachtfeldern erlitt der Gießener schnell so massive Verwundungen, dass er fortan mit einer schweren Epilepsie zu kämpfen hatte. Und die Anfälle waren so gravierend, dass ihm vom Deutschen Reich alsbald ein ständiger Begleiter gestellt wurde, »ohne den er sich nie wieder alleine fortbewegen konnte, noch durfte, und der ihm im Notfall auch die erforderlichen Rettungsdienste leisten konnte«, wusste Josef Stern, der langjährige Vorsitzende des Vereins ehemaliger jüdischer Bürger in Gießen und Umgebung, zu berichten. Selbst in die Synagoge musste der einstige Frontkämpfer begleitet werden. Dank der Anerkennung als »zu 100 Prozent kriegsdienstbeschädigt« und einer monatlichen Rente schien trotzdem ein halbwegs normales Leben für den selbständigen Kaufmann möglich zu sein. Das aber sollte nicht so bleiben. Denn nach sich ständig verschärfenden Drangsalierungen und Entrechtungen waren das Letzte, was seine Heimat für ihn und viele andere jüdische Kriegsveteranen bereithielt: Deportationszüge, Konzentrationslager und Gaskammern. Adolf Abraham wurde wohl 1941 in Hadamar ermordet. Seine Ehefrau Clementine sowie der gemeinsame Sohn Siegbert wurden ein Jahr später ins besetzte Polen deportiert und vermutlich in Treblinka vergast. Seine Mutter Fanny Abraham starb im Januar 1943 in Theresienstadt.

»Austauschjuden«

Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust soll auch an diese zwei Männer und zwei Frauen aus Gießen erinnert werden. In den Blick genommen wird aber auch das schier unfassbare Schicksal der drei Geschwister von Adolf Abraham, die in Brasilien, den Vereinigten Staaten und als sogenannte »Austauschjuden« im Konzentrationslager Bergen-Belsen dem entfesselten Morden der Nationalsozialisten entrinnen konnten.

Am 27. Januar 1945 erreichte die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und befreite die zurückgelassenen entkräfteten Häftlinge. Mehr als 1,1 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden von den Deutschen allein dort umgebracht. Als gesetzlicher Gedenktag wurde der 27. Januar allerdings erst 1996 in der Bundesrepublik festgelegt, als internationaler Gedenktag ist er seit 2005 von den Vereinten Nationen verankert.

An den gewaltsamen Tod von Adolf Abraham und seiner Familie erinnern seit November 2017 vier Stolpersteine vor ihrem einstigen Zuhause in der Neustadt. Von London aus hatte - die inzwischen verstorbene - Hildegard Abraham, die mit dem Neffen von Adolf verheiratet war, Kontakt nach Gießen aufgenommen. Denn es war ihr ausdrücklicher Wunsch, dass die ermordeten Angehörigen in ihrer Heimatstadt nicht vergessen werden.

Das war der Ausgangspunkt für intensive Recherchen zur jüdischen Familie Abraham. Dabei konnte auch die verschollen geglaubte Krankenakte von Adolf im Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen wiederentdeckt werden.

Die Anfänge aber liegen rund 30 Kilometer von Gießen entfernt: in Ehringshausen und Katzenfurt, zwei Ortschaften im unteren Dilltal. Dort betrieb der Kaufmann Süßmann Abraham ein Viehgeschäft. Im Mai 1885 heiratete er die fünf Jahre jüngere Frummet Ochs aus Herleshausen, die selbst in offiziellen Dokumenten stets Fanny genannt wurde. Gemeinsam hatten sie fünf Kinder - zwei Töchter und drei Söhne. Paula, die Älteste, starb bereits 1907, zwölf Monate nach ihrer Heirat mit einem Händler aus Limburg. »Und der Vater Süßmann war drei Jahre später bei einem schrecklichen Fahrradunfall tödlich verunglückt«, ergänzte Hildegard Abraham.

Die zweitälteste Tochter Meta hatte kurz zuvor Max Löwenberg aus Reiskirchen geheiratet, der zeitgleich wiederum einen Viehhandel in Gießen gründete. Den Löwenbergs scheint es finanziell zunächst recht gut gegangen zu sein. Und die Hochzeit der 1911 geborenen Tochter Brigitte mit dem Mediziner Dr. Max Steinreich deutet auf einen gesellschaftlichen Aufstieg hin. Die Nationalsozialisten setzten jedoch all den Hoffnungen der Löwenbergs und Steinreichs auf eine glückliche Zukunft in der Heimat ein jähes Ende. Brigitte und Max Steinreich emigrierten deshalb im Juli 1937 nach Brasilien. Zwei Jahre später folgten ihnen Meta und Max Löwenberg, der durch die Deportation nach Buchenwald im Zusammenhang mit der Pogromnacht schwere Quälereien der KZ-Wärter hatte erdulden müssen. »Im November 1938 wurde ich in das KZ Buchenwald verbracht, wo ich 18 Tage verblieb. Waehrend des Aufenthaltes wurde ich in brutalster Weise misshandelt, Schlaege auf den Kopf fuehrten zu einem Ohrleiden«, lässt sich in seiner Entschädigungsakte nachlesen. »Weit schlimmer ist aber, dass die Verhaftung und die sich anschliessenden Misshandlungen mich herzleidend machten; ein Umstand, der mich dann leider fuer immer arbeitsunfähig machte«, heißt es weiter.

Unsicheres Exil

Ihr Leben konnten die Vier durch die Flucht nach Südamerika retten, doch die Entschädigungsakten offenbaren, dass sie im Exil mit überaus unsicheren Verhältnissen zurechtkommen mussten. Darin ist nachzulesen, dass »die Familie ein aeusserst bescheidenes Leben« führte und ein »Mangel an Geldmitteln« bestand.

Auch Adolfs zwei Jahre jüngerer Bruder Karl entschied sich gemeinsam mit seiner Frau Mallie und dem Sohn Siegfried für die Emigration. An Bord des Passagierschiffes »S.S. Washington« kamen sie Ende April 1940 in New York an. Ebenso wie Schwager und Vater war er als Viehhändler tätig - allerdings in Schenk-lengsfeld bei Fulda. Wie Max Löwenberg wurde Karl Abraham im Herbst 1938 in Buchenwald inhaftiert. Und wie die Angehörigen in Brasilien konnte das Ehepaar in dem fremden Land nicht mehr an die ertragreichen Verhältnisse der Jahre vor der Machtübernahme durch Adolf Hitler anknüpfen und beschrieb selbst seine »bedrängte finanzielle Lage«.

Für den Sohn, der sich in den USA Fred nannte, sollte seine Herkunft aus Deutschland noch traumatischere Folgen nach sich ziehen. Denn mit 18 Jahren wurde er 1944 in die amerikanische Armee eingezogen und war nach Kämpfen im Elsass beim Vormarsch der US-Truppen einer der ersten Alliierten, die das KZ Dachau Ende April 1945 betraten. Dort stießen die jungen Soldaten auf hunderte Leichen, halbverhungerte Häftlinge, kranke und schwer traumatisierte Menschen.

Der jüngste Sohn von Fanny und Süßmann Abraham, der ebenfalls Siegfried hieß, hatte sich schon in den 1920er Jahren mit einem Börsenhandel in Hamburg selbständig gemacht. Da er durch einen befreundeten Rechtsanwalt rechtzeitig vor unmittelbar bevorstehenden Devisensperrungen gewarnt worden war, konnte er 1935 bei der Flucht nach Holland zumindest einen Teil seiner Gelder retten, mit denen er seine Mutter und die Geschwister unterstützte. Zunächst konnte er seine beruflichen Erfolge wiederholen, angesichts der sich in Deutschland zuspitzenden Kriegsgefahr und der für Juden immer bedrohlicheren Lebensumstände forcierte der Bankkaufmann die Vorkehrungen, Europa mit seiner Frau Gerda und den Kindern Hans Henry - dem späteren Ehemann von Hildegard Abraham - und Ruth selbst zu verlassen.

Deutsches Minenfeld

Schnell konnte er die Auswanderung nach Chile im Herbst 1939 auf dem Schiff »Simon Bolivar« organisieren. »Einen Tag vorher bekam unser Sohn eine schlimme Ohrentzündung«, schilderte Gerda Abraham 1997 im Interview mit der »Shoah Foundation«. Und da das Ehepaar bereits einen kleinen Jungen verloren hatte, wollten beide keinerlei Risiko eingehen. Denn es sollte kein Arzt mit an Bord sein. »An dem Freitag, an dem das Schiff ablegen sollte, brachte mein Mann morgens die Tickets zurück.« Dabei sei er einem deutschen Juden aus Chemnitz begegnet, dem er die vier Fahrkarten überließ. Der Passagierdampfer lief am nächsten Morgen im Ärmelkanal auf ein deutsches Minenfeld. Mehr als 80 Menschen starben bei diesem Unglück. Unter ihnen zwei Mitglieder einer deutschen Familie aus Chemnitz. Geradezu verzweifelt scheint Siegfried Abraham danach eine Gelegenheit gesucht zu haben, legal eine sichere neue Heimat zu finden. Zwar konnte ihm ein Freund in der Schweiz Visa für Haiti besorgen, die Ausreise aber scheiterte. Dennoch haben die - gar nicht mehr gültigen - Visa der Familie das Leben gerettet. Denn statt nach ihrer Festnahme über Westerbork nach Auschwitz deportiert zu werden, kamen die Vier im Mai 1944 als sogenannte »Austauschjuden« nach Bergen-Belsen. In dem KZ in der Lüneburger Heide hatte die SS ein »Aufenthaltslager« eingerichtet, in dem ausländische Juden »griffbereit« gehalten wurden, um sie gegen Devisen oder im Ausland internierte deutsche Zivilisten austauschen zu können. Und tatsächlich konnten Siegfried und Gerda Abraham mit den beiden Kindern das KZ im Rahmen der vierten Austauschaktion im Januar 1945 verlassen. Doch als Inhaber zweifelhafter Pässe wurden sie per Schiff in ein Flüchtlingslager in Algerien verbracht. Von dort durften sie erst Anfang 1946 in die Vereinigten Staaten einreisen.

In der Gaskammer

Unterdessen hatte sich die Situation für den ältesten Bruder Adolf in Gießen dramatisch zugespitzt. Bereits Ende 1935 oder Anfang 1936 - da sind die Dokumente in der Patientenakte widersprüchlich - wurde die 100-prozentige Kriegsdienstbeschädigung unerwartet auf 30 Prozent verringert und bald danach ganz gestrichen. Dagegen hatte die Familie Einspruch eingelegt und private Expertisen eingeholt. Ohne Erfolg. Und während sich die Anfälle häuften und an Intensität gewannen, heißt es nun in einem »Fachärztlichen Gutachten« der Universitätsnervenklinik, dass »eindeutig festgestellt werden muss«, dass die Epilepsie keinesfalls auf eine »Dienstbeschädigung« zurückzuführen sei. Es handele sich vielmehr um eine »genuine« - eine erbliche - Erkrankung. Dem Veteranen wird sogar »bewusste Simulation« unterstellt, da eine tatsächliche Verschlimmerung des Leidens mit einer Rentenerhöhung einhergehe. Der Klinikdirektor Prof. Hermann Hofmann beantragte nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zudem die Zwangssterilisierung des damals 46-Jährigen. Diese wurde indes wegen der »niedrigen Fortpflanzungsgefahr« vom »Erbgesundheitsgericht« abgelehnt. Gleichzeitig wurde ihm aber die Kriegsrente beinahe ganz aberkannt.

Der Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges wurde letztlich im März 1940 ins Philippshospital im südhessischen Goddelau gebracht. Von dort kam er per Sammeltransport am 1. Februar 1941 in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Heppenheim. Und nach kurzem Aufenthalt wurde Adolf Abraham wenige Tage später mit 28 Frauen und 38 Männern von Krankenwagen »abgeholt« und »in eine für Juden vorbehaltene Anstalt verlegt«. Den genauen Zielort haben die NS-Schergen nicht vermerkt, es gibt aber wenig Zweifel daran, dass diese letzte Fahrt in der Gaskammer von Hadamar endete.

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