Viel mehr als nur Trauer und Tod

Seit 2014 werden im Hospiz »Haus Samaria« in Gießen schwerkranke und sterbende Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Von Beginn an war Peter Weissner Einrichtungsleiter.
Gießen . Seit 2014 werden im Hospiz »Haus Samaria« schwerkranke und sterbende Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Von Beginn an war Peter Weissner Einrichtungsleiter, nun hat er sich nach 45 Berufsjahren in den Ruhestand verabschiedet. Im Interview spricht er über seinen Weg in die Palliativmedizin, falsche Vorstellungen vor dem Gang ins Hospiz und warum er vor dem Sterben keine Angst mehr hat.
Herr Weissner, wie sind sie zur Hospizarbeit gekommen?
Mein beruflicher Werdegang war von Zufällen geprägt - sowohl die Berufswahl an sich als auch der Weg in das »Haus Samaria«. Ich war 36 Jahre lang, inklusive Ausbildung, bei der Uniklinik. Meine Frau fragte mich irgendwann, ob ich mit ihr ins Theater gehen würde und in der Pause trafen wir Christa Hofmann-Bremer, die zu dem Zeitpunkt Pflegedirektorin am Evangelischen Krankenhaus war. Wir sind ins Gespräch gekommen und als ich mich verabschiedet habe, sagte ich ihr: ›Christa, wenn du irgendwann mal was für mich hast, melde dich einfach.‹ Zwei Tage später rief sie mich an und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, die Pflegedienstleitung im zukünftigen Hospiz zu übernehmen. Ich hatte mich mit Hospizarbeit und Palliativmedizin bis zu diesem Zeitpunkt nicht auseinandergesetzt. Aber sie war sich sicher, dass ich die richtige Person wäre. Nach kurzem Überlegen habe ich zugestimmt und etwa ein Dreivierteljahr vor Inbetriebnahme angefangen, um die Umbauphase zu begleiten, Personal zu rekrutieren und die ganzen Prozesse zu planen.
Berührungsängste hatten Sie keine?
Mein Berufsleben war immer sehr geprägt durch einen empathischen und fürsorglichen Umgang mit den Patienten im klinischen Bereich. Im Zuge der Zeit wurden die Rahmenbedingungen dort nicht besser, sodass in mir die Unzufriedenheit wuchs. Der Vorschlag ins »Haus Samaria« zu wechseln, war rückwirkend betrachtet ein Segen. Wir können hier bei unserer Arbeit wirklich für die Menschen da sein und sie so versorgen, wie das jeder einzelne für sich möchte. Das war im klinischen Bereich zunehmend schwieriger, dort ging es nur noch um Fallzahlen. Ich kann und will hier den Krankenhäusern keinen Vorwurf machen. Das hängt mit der Finanzierung im Gesundheitssystem zusammen.
Viele Menschen wollen aber lieber zuhause in ihrer vertrauten Umgebung sterben anstatt in einem Hospiz.
Das stimmt. Aber oftmals ist die Versorgungssituation hochproblematisch. Sie haben zwar das Netzwerk der Palliativmedizin im Rahmen der SAPV. Sie haben häusliche Pflege, die die Betroffenen besucht. Aber letztendlich sind Sie die ganze Nacht alleine. Wir können in unserer Einrichtung auch das soziale Umfeld der Menschen begleiten und haben gleichzeitig die Möglichkeit, den Betroffenen ein großes Stück an Sicherheit zu geben hinsichtlich der aktuellen Behandlung zu jeder Tages- und Nachtzeit und können auch auf quälende Symptome sehr schnell eingehen. Stellen Sie sich vor, dass jemand nachts massive Probleme bekommt und Sie haben dann einen Ehepartner oder Lebensgefährten, der 85 Jahre alt ist - der kann nicht so schnell helfen. Wir haben im Laufe der nunmehr siebeneinhalb Jahre über 1000 Menschen begleitet und hatten oft die Situation, dass Menschen mit Ängsten zu uns kamen. Aber es vergingen keine zwei Tage und sie waren sehr froh, diesen Schritt für sich gemacht zu haben.
Welche falschen Vorstellungen haben die Menschen beim Thema Hospiz?
Zum Beispiel, dass hier nur Trauer und Tod als Atmosphäre beheimatet ist. Wir legen großen Wert darauf, dass die letzten Tage, die uns bleiben, mit sehr viel Qualität einhergehen. Die Qualität definiert jeder Betroffene für sich, nicht wir. Ein sehr prägendes Erlebnis für mich war ein Gespräch mit einer älteren Dame, die quietschfidel auf der Bettkante saß und sagte: ›Herr Weissner, es geht mir so gut. Ich habe nur noch wenige Tage oder Wochen zu leben. Aber das ist das erste Mal seit drei Jahren, dass ich schmerzfrei bin.‹ Sie war überglücklich. Ich selbst hatte nie Angst vor dem Tod. Aber als ich im klinischen Bereich gearbeitet habe, hatte ich Angst vor dem Sterben.
Angst vor möglichen Schmerzen?
Angst vor der Art und Weise des Sterbens. Ich habe sehr viele unschöne Situationen im klinischen Bereich erleben müssen. Als ich die Palliativmedizin kennengelernt habe, habe ich auch die Angst vor dem Sterben verloren.
Welche Rolle spielen die Angehörigen bei der Begleitung im Hospiz?
Wir sind nicht nur für die Gäste da, sondern auch für das soziale Umfeld. Wir sprechen im Hospizbereich aber nicht von Angehörigen, sondern von Zugehörigen. Denn es gibt auch viele Menschen, die zwar eine Familie, aber unter Umständen seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr haben. Uns sind die für den Gast relevanten Bezugspersonen wichtig, unabhängig davon, ob sie verwandt sind. Gerade in der Corona-Pandemie war es ein Problem, dass viele Menschen in Pflegeeinrichtungen oder in Krankenhäusern vereinsamt verstorben sind. Der Gesetzgeber hat glücklicherweise die Ausnahme gemacht, dass Palliativbereiche selbst die Besuchsregelung definieren können. Uns war es wichtig, dass die für den Gast relevanten Menschen vor Ort sein konnten.
Wie geht man damit um, wenn man in seinem Beruf ständig mit dem Tod zu tun hat?
Das Thema Sterben war ja für die Menschen, die hier im Hospiz tätig sind, auch vorher nichts Fremdes. Wir haben hier ausschließlich Kollegen, die über Jahre oder teils Jahrzehnte im klinischen Bereich tätig waren, wo das Sterben auch zum Alltag gehörte. Aber aufgrund der Refinanzierung der Krankenkassen haben wir hier viel mehr Zeit für die Betroffenen. Diese Zeit genießen die Gäste und wir erfahren unglaublich viel Dankbarkeit von ihnen und ihren Zugehörigen. Das trägt einen auch im Alltag weiter.
Gab es Situationen, die Sie selbst nach jahrelanger Arbeit im Hospiz überrascht haben?
Als ich mit der Hospizarbeit begonnen habe, hatte ich für mich das Gefühl, nach 36 Jahren im klinischen Bereich alles erlebt zu haben. Aber in den Jahren im Haus Samaria habe ich noch sehr viel hinzu gelernt. Sofern sie es wünschen, leben wir ja mit den Gästen und den Zugehörigen ähnlich wie in einer WG. Wir essen gemeinsam, wir verbringen den Alltag gemeinsam. Beim Frühstück hat ein Gast mal erwähnt, dass er in seinem Leben schon fast alles gemacht hat, aber noch keine Fahrt im Heißluftballon. Das haben wir ihm ermöglicht und es war ein Riesenerlebnis für ihn. Aber es sind auch ganz kleine Geschichten. Ein Gast hat sich mal ein T-Bone-Steak gewünscht. Wir haben es sofort umgesetzt und es so zubereitet, wie er es sich gewünscht hat. In diese glücklichen Augen zu schauen, sind Momente, die vergessen Sie nie. Ich finde es manchmal traurig, wenn ein Gast oder Zugehöriger erwähnt, dass hier alle so freundlich sind. Diese Freundlichkeit ist etwas, das ich mir eigentlich in der ganzen Gesellschaft wünschen würde.
Beim Thema Tod denkt man zumeist an Ältere. Wie geht man damit um, wenn ein junger Mensch stirbt?
Ich würde das gar nicht so sehr vom Alter des Sterbenden abhängig machen. Es sind die zwischenmenschlichen Beziehungen, die wachsen. Ein 90-Jähriger, der verstorben ist und mir unheimlich ans Herz gewachsen war, hat mir genauso weh getan wie ein 20-Jähriger.
Was kann man für die Mitarbeiter tun, wenn ein Gast stirbt?
In erster Linie ist es wichtig, dass man ein funktionierendes Team hat, wo jeder für den anderen da ist und ein offenes Ohr für seine Kollegen hat. Das andere sind unterstützende Angebote wie Mitarbeiterbesprechungen und Supervision, um das Erlebte aufarbeiten zu können.
Welche Pläne haben Sie für Ihren Ruhestand?
Im Moment habe ich das Gefühl, dass mein soziales Umfeld mehr Pläne für mich hat, als dass ich selbst welche hätte ( lacht) . Aber es ist eine komfortable Situation, gesund in den Ruhestand zu gehen und nach all den Jahren, in denen das Leben durchgetaktet war, den Luxus zu haben, selbst zu entscheiden, was man machen möchte und was nicht. Ich habe mir jetzt erstmal sechs Monate »Probezeit« auferlegt im Ruhestand und dann werde ich schauen, was ich in Zukunft mache.
Was wünschen Sie sich für das »Haus Samaria«?
Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung der Öffentlichkeit und der Wirtschaft. Fünf Prozent unserer Kosten werden nicht über die Krankenkassen finanziert, sondern über Spenden. Das klingt erst einmal wenig. Aber es sind circa 75 000 Euro, die wir Jahr für Jahr aufbringen müssen. Mein Wunsch ist, dass das »Haus Samaria« hier weiterhin so gut unterstützt wird. Die gute Arbeit der vergangenen Jahre wird weiter laufen. Daran habe ich überhaupt keine Zweifel.
Wie möchten Sie sterben?
Ich würde hier her kommen, ins »Haus Samaria«. Absolut. Mein soziales Umfeld wäre nicht so belastet in der Begleitung meiner Person, wenn es nicht zusätzlich noch Tag und Nacht die pflegerischen Tätigkeiten mitleisten müsste. Das würde ich meiner Familie auch überhaupt nicht zumuten wollen. Ich würde mich freuen, wenn sie mich hier besucht. Ich möchte nicht in einem Maße zur Last fallen, der kaum noch tragbar ist. Denn davon profitieren Sie als Betroffener überhaupt nicht. Wenn Ihr Partner nachts Ihretwegen mehrfach aufstehen muss, wird er nicht in der Emotionalität für Sie da sein können, wie Sie sich das wünschen. Foto: Pfeiffer
Gitta Baumgartl-Weber hat die Einrichtungsleitung und Prokura im Hospiz »Haus Samaria« übernommen. Sie gehört bereits seit der Eröffnung im Jahr 2014 zum Team und hat seitdem Gäste auf ihrem letzten Lebensweg begleitet. Seit Juni 2020 war sie als stellvertretende Einrichtungsleitung tätig. Eine zweijährige Weiterbildung zur Leitenden Pflegefachkraft bereitete sie auf die neue Position optimal vor. Peter Weissner verabschiedet sich nach 45 Berufsjahren in seinen wohlverdienten Ruhestand. Gemeinsam mit der früheren Geschäftsführerin Christa Hofmann-Bremer war Weissner maßgeblich am Aufbau und der Konzeptionierung des Hospiz beteiligt. »Sein starker Elan, seine bezeichnende Weitsicht und besonders seine Menschlichkeit haben das Haus Samaria Hospiz entscheidend geprägt«, heißt es in einer Pressemtteilung der Agaplesion Haus Samaria Hospiz gGmbH. Geschäftsführer Markus Schäfer dankte Weissner für dessen Arbeit: »Danke für Ihren unermüdlichen Einsatz und Ihr großes Engagement für das ›Haus Samaria‹.« Das Hospiz hat Platz für bis zu zehn Gäste. Rund 1000 Menschen wurden hier seit 2014 begleitet. Der Aufenthalt dauert manchmal nur wenige Stunden, manchmal viele Monate. Träger sind die Agaplesion Haus Samaria Hospiz gGmbH, der Hospiz-Verein Gießen und der Verein für Kranken-, Alten- und Kinderpflege zu Gießen. (red)
