Viel verziehen, nichts vergessen

Der Holocaust-Überlebender Ivar Buterfas war zu Gast in Lollar - und in Gießen erstmals in einer Moschee. Die überwiegend jungen zuhörer lauschen konzentriert seiner filmreifen Lebensgeschichte.
Gießen/Lollar . Ivar Buterfas hat weiß Gott viel gesehen in seinem langen Leben, das wenige Wochen vor der Machtübernahme Adolf Hitlers begann. Mehr als 1500 Vorträge vor allem in Schulen hat der Holocaust-Überlebende bislang gehalten, doch sein Vortrag am Donnerstagabend war für den 90-Jährigen eine Premiere. Erstmals sprach er in einer Moschee über seine bitteren Erfahrungen mit Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassenhass.
Eingeladen hatten ihn die drei Gießener islamischen Gemeinden, die ISG, die Buchara-Moschee und die Ditib-Moschee, in deren Gebetssaal sich rund 130 meist jüngere Zuhörer drängten, um zwei Stunden lang konzentriert der filmreifen Lebensgeschichte des »Hamburger Jong« zu lauschen.
Eindringlich schildert Buterfas die Demütigung, als er gerade sechs Wochen nach seiner Einschulung vor sämtlichen auf dem Pausenhof angetretenen Mitschülern der Schule verwiesen wurde, damit er als Jude »nicht länger die Luft verpeste«. An diesem Tag sei sein Herz gebrochen worden, erinnert sich der 90-Jährige.
Damit nicht genug: Noch auf dem Heimweg hätten ihn Hitler-Jungen und BDM-Mädchen verfolgt, geschlagen, mit einer glühenden Zigarette verbrannt und ihn schließlich auf ein Straßenabflussgitter gezwungen, unter dem sie ein Feuer entfacht hatten, um das »Judenschwein zu rösten«. Nur das Eingreifen Erwachsener verhinderte Schlimmeres.
Das Schönste genommen
Am Freitagmorgen, nachdem er sich in der vollbesetzten Aula der Clemens-Brentano-Europa-Schule den Fragen der Schüler gestellt hat, sagt er im Gespräch, dass man ihm an diesem Tag mit der Schule das Schönste genommen habe, was es in dieser Lebensphase gebe: die Bildung und die Kameradschaft unter Gleichaltrigen. Buterfas’ Jugend war dagegen von Angst, Verfolgung, Flucht vor Bomben und ständigem Versteckspiel geprägt. Seine christliche Mutter habe ihn und seine sieben Geschwister alleine durch diese Jahre bringen müssen, weil der jüdische Vater schon früh ins KZ gekommen sei. Der nächste Schock folgte der Freude über dessen Rückkehr aus den NS-Lagern. Das dort Erlebte hat den Vater verändert, kurz nach der Rückkehr verlässt er die Familie.
Der junge Ivar muss mithelfen, Mutter und Geschwister zu ernähren, verkauft Kugelschreiber in Zügen und lernt, sich durchzuboxen in einem Land, das aus seiner Vergangenheit nichts lernen will, lieber verdrängt und ihm erst 1964 die von den Nazis aberkannte deutsche Staatsbürgerschaft zurückgibt.
Erst steigt er selbst als Amateurboxer in den Ring, später richtet er als Promoter in den 1970ern Kämpfe mit den Größen des deutschen Schwergewichts aus und auch einen mit dem Größten: Sein Protegé Georg Butzbach kämpfte 1979 in der Berliner Deutschlandhalle gegen Muhammad Ali.
Ein Kämpfer und damit unbequem bleibt Buterfas bis ins hoher Alter. Als er sich 2004 für die Einrichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen Kriegsgefangenenlager und KZ »Stalag XB« in der Nähe von Sandbostel bei Bremen einsetzt, in dem mindestens 50 000 Menschen starben, erteilt ihm der CDU-geführte Magistrat im zuständigen Rathaus von Bremervörde Redeverbot. Dort will man die erhaltenen Lagerbaracken lieber abreißen und ein Gewerbegebiet errichten. Der Skandal ist da. An dessen Ende steht aber die Entscheidung für die Gedenkstätte.
Der Träger des Weltfriedenspreises, des Bundesverdienstkreuzes am Bande und der Europäischen Menschenrechtsmedaille (um nur einige Ehrungen zu nennen), nimmt auch in der Moschee und in der Schule kein Blatt vor den Mund. Er warnt in Gießen und in Lollar vor »einer Horde irregeleiteter Verrückter, die vom Vierten Reich träumt und jetzt im Bundestag sitzt und dummes Zeug schwätzt«. Den jungen Gemeindemitgliedern und den Schülern fordert er an beiden Tagen das Versprechen ab, ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu machen, denn unsere Demokratie sei empfindlich geworden und fragiler als viele glaubten.
In der Moschee fragt ihn eine junge Frau, ob er jemals mit dem Gedanken gespielt habe, das Land zu verlassen. »Niemals«, betont Buterfas. Deutschland sei nicht nur das Land der Mörder gewesen. Auch ihm und seiner Familie hätten immer wieder Menschen geholfen. Ein Schüler in Lollar möchte von ihm wissen, ob man nach den Schrecken des Nationalsozialismus noch einen deutschen Patriotismus haben könne. Buterfas bejaht entschieden. »Ihr könnt alle erhobenen Hauptes über die Straße und in andere Länder gehen.« Deutschland habe am Ende seine dunkle Geschichte aufgearbeitet und werde deshalb nie wieder die Fehler der Vergangenheit machen. Was ihn und dieses Land eine: Beide seien sie von ganz unten gekommen und am Ende ganz oben angekommen.
»Verziehen habe ich viel, vergessen habe ich nichts«, fasst er seine Haltung zusammen, dann brechen er und seine Frau Dagmar auf. Zuhause warte schließlich ihr kleiner Hund. Dagmar Frankenthal, mit der er seit 67 Jahren verheiratet ist, hat ihn an beiden Tagen unterstützt und begleitet - eine Beziehung auf Augenhöhe. Um das zu unterstreichen, hat ihr Mann vor sieben Jahren seinen Namen ändern lassen. Heute heißt er Ivar Buterfas-Frankenthal.
