Vom Drinnen und Draußen

Vernissage am heutigen Samstag: Tomas Maglione zeigt beim Neuen Kunstverein eine Videoinstallation mit Porträts von Menschen am Bahnsteig.
Gießen. Wer jemals an einem Bahnsteig stand, während ein ICE-Schnellzug über das eine Armlänge entfernte Gleis raste, weiß um die überwältigende Kraft, die von diesem monströsen Gefährt ausgeht. Auch Tomas Maglione machte diese ganz spezielle Erfahrung - und nutzte sie für ein Kunstprojekt, das er heute Abend im Galerie-Kiosk des Neuen Kunstvereins Gießen vorstellt. »Thirst« (Durst) ist die Videoarbeit des Frankfurter Städelschülers benannt, in der er kurze Porträts von 30 Menschen eingefangen hat, die viel Raum für Assoziationen bieten.
Maglione stammt aus der Millionenmetropole Buenos Aires und kam 2019 an die renommierte Kunsthochschule. Es wurde ein für ihn inspirierender Ort, an dem er den Austausch mit vielen anderen Künstlern fand - und dennoch bald ausgebremst wurde. Die Corona-Pandemie sorgte dafür, dass der Argentinier seine Ausbildung unterbrechen musste. Dafür fand er eine Arbeit bei einem Hersteller von Desinfektionsmitteln im nahen Mörfelden - und entdeckte als Pendler die Szenerie, die er als Inspiationsquele nutze.
Er suchte nach einem Bahnsteig, den die ICEs mit besonders hoher Geschwindigkeit passieren und fand die Station im nahen Groß-Gerau. Dort filmte er auf ihren Nahverkehrszug wartende Menschen, die sich im Fensterglas der mit Tempo 200 und mehr vorbeirauschenden Waggongs spiegelten. Immer ist dabei nur ein kurzer, etwas wackeliger oder verzerrter Eindruck von den Wartenden zu erhaschen, bevor die Spiegelung wieder endet und der schwarze Bildschirm das nächste Porträt ankündigt.
Diese kurzen Sequenzen zeigt Maglione im Kiosk auf einer großen, auch von außen einsehbaren Leinwand. Unterlegt sind sie vom lauten, bedrohlich klingenden und eine unkontrollierbare Kraft ausstrahlenden Dröhnen der ICEs. Drückt sich in diesen Bildern, die im Februar vergangenen Jahres aufgenommen wurden, etwa die Corona-Atmosphäre einer vereinzelten, niedergedrückten Gesellschaft aus? Nicht unbedingt, entgegnet Maglione. Für ihn steckt darin vielmehr der existenzielle Gegensatz zwischen einem Drinnen und einem Draußen: auf der einen Seite die durch die Landschaft rasenden, unsichtbaren Passagiere, auf der anderen die zum Stillstand verurteilten Wartenden am Bahnsteig. »Und wir, sagt der sich darin ausdrücklich einbeziehende Filmemacher, »sind alle draußen.«
Details sorgen für Spannung
Dabei zeigt sich für den Argentinier gerade im Detail das Faszinierende dieser Porträts. Hier jemand, der gekrümmt in sein Handy starrt, dort eine in sich versunkene Frau mit starrem Blick nach vorne, hier ein tagträumender Mann mit geschlossenen Augen, dort, ja, tatsächlich, eine junge Frau, die in Richtung Kamera lacht. Insgesamt 30 Porträts sind so entstanden, von Menschen, die für den Künstler »eine Menge spannender Geheimnise« ausstrahlen.
Traurigkeit sei es also nicht, was diese Bilder und Personen miteinander verbinde, sagt der sein Studium vermutlich Anfang 2024 beendende Argentinier, der gleichzeitig gesteht, dass diese Jahreszeit hierzulande schon eine gewisse Tristesse berge. »In Argentinien haben wir solch einen Winter nicht.« Dennoch hat er damit kein Problem, denn er hat sich in der fremden Stadt eingerichtet und nach schwierigem Beginn »eine Struktur erarbeitet«. Zugleich geht er noch immer mit offenen Augend durch die Gegend, »ich laufe sehr gerne«, um Entdeckungen zu machen und vielleicht auch für seine Kunst zu verwenden.
Der Kiosk in Gießen ist für ihn eine ideale Ausstellungsfläche, weil hier der Verkehr tost und eine passende Kulisse für die Filmbilder abgibt. Und weil er auch Passanten auf seine Porträts aufmerksam machen kann. »Ich möchte mit meiner Arbeit ganz normale Menschen jenseits des Kunstbetriebs erreichen«, erzählt Maglione. Das sollte klappen: Einen Blick in diese Galerie zu werfen, lohnt sich.
Die Ausstellung »Thirst« von Tomas Maglione wird am heutigen Samstag um 18 Uhr im Kiosk des Neuen Kunstvereins eröffnet. Für Besucher geöffnet ist der Kiosk dann außerdem an folgenden Samstagen: 21. und 28. Januar, 4. und 11 Februar, jeweils von 14 bis 17 Uhr. Ein Künstlergespräch findet am 18. Februar um 14 Uhr statt. Letztmals ist die Ausstelllung dann am 25. Februar zu sehen. (bj).