»Von kurios bis todtraurig«

Dennis Rupp arbeitet beim DRK Mittelhessen als Notfallsanitäter. Bei einem Wettbewerb hat er es zur Auszeichnung als »Nachtschicht des Jahres« geschafft. Hier berichtet er aus seinem Alltag.
Gießen. Wie der Beruf genau heißt, wusste Dennis Rupp als Kind noch nicht. Und doch habe für ihn bereits von klein auf festgestanden, dass er später einmal im Rettungsdienst tätig sein möchte. »Auch nach 23 Jahren kann ich sagen: Ich habe noch immer jeden Tag Freude daran. Trotz aller Anstrengungen ist das für mich der beste Job der Welt«, betont der 41-Jährige im Gespräch mit dem Anzeiger. Für das Deutsche Rote Kreuz (DRK) Mittelhessen ist er als Notfallsanitäter im Einsatz. Und in dieser Funktion hat er jüngst mit seiner Kollegin Lea Buchenau in einem vom schwedischen Software-Anbieter Quinyx initiierten Online-Wettbewerb die Auszeichnung als »Nachtschicht des Jahres« ergattert. Das Motto: »Während Du schläfst«.
Ziel war es, all jenen, die nachts arbeiten und damit auf vielfältige Weise »unseren Lebensstandard sichern«, die »unsere Wirtschaft und unser Gesundheitssystem am Laufen halten«, wenn andere gemütlich im Bett liegen, mit dieser Kampagne zu würdigen und ihnen ein Gesicht zu verleihen. Die Idee, auf die Leistungen von Menschen in der Nachtarbeit und die damit verbundenen Belastungen aufmerksam zu machen, hat auch Dennis Rupp überzeugt. Gemeinsam mit seiner Auszubildenden hat er sich deshalb überlegt, ein aufwändiges, aber extrem wichtiges Detail zu demonstrieren, das vielen vermutlich gar nicht so bewusst sein dürfte: Es geht um die notwendigen hygienischen Maßnahmen. »Wir haben einfach bildlich festgehalten, wie wir nachts um 1.46 Uhr das Innere unseres Rettungswagens desinfizieren.«
Eine gewisse Grundhygiene findet ganz unabhängig von den Erfordernissen der Pandemie nach jedem Patiententransport statt. Der Bezug der Trage werde erneuert, alle benutzten Gegenstände wie Blutdruckmanschette, Stethoskop oder Kabel werden desinfiziert, zudem alle Oberflächen, die berührt worden sind. »Es steht ja niemandem auf der Stirn, welche Erkrankung er möglicherweise mitbringt«, erzählt Rupp.
Ist wiederum klar, dass eine Infektion vorliegt, falle die Desinfektion hinterher noch umfangreicher aus, inklusive der Wände, Decke und Boden sowie geöffneter Schubladen. Standardmäßig dauere diese Prozedur 30 bis 45 Minuten - Zeit, in der das Fahrzeug nicht zur Verfügung steht. Aber natürlich gibt es mehrere Rettungswagen (RTW) von DRK und Johannitern, die in Stadt und Landkreis Gießen rund um die Uhr besetzt sind; tagsüber kommen weitere hinzu.
»Kein Tag verläuft wie der andere«
Als Notfallsanitäter arbeitet Dennis Rupp, der fest der DRK-Wache in Hungen zugeordnet ist, jeweils zwölf Stunden in der Tag- oder Nachtschicht. »Das Spannende daran ist, dass wir nie wissen, wie der Dienst verläuft. Abgesehen von bestimmten Routinen ist kein Tag wie der andere«, so der 41-Jährige. Selten passiere gar nichts, manchmal folge ein Einsatz dem nächsten, sodass nicht mal Zeit zum Essen bleibe. Denn bei einer Alarmierung müsse das Fahrzeug eben binnen 60 Sekunden unterwegs sein.
Neben dem Notfall- ist immer noch ein Rettungssanitäter »an Bord«, gelegentlich ergänzen auch Auszubildende oder Praktikanten dieses Zweier-Team. Eine Notärztin oder ein Notarzt ist nicht immer automatisch dabei, sie werden vor allem dann hinzugezogen, wenn eine lebensbedrohliche Lage indiziert ist - etwa bei Bewusstlosigkeit, anhaltenden Krampfanfällen, ausgeprägter Atemnot oder akutem Brustschmerz.
Die hohe Eigenverantwortung und die Kompetenz, die ihm und seinen Kollegen zugestanden werde, empfindet Dennis Rupp als besonderen Ansporn. Einen zusätzlichen Reiz stelle es dar, »mit allen Phasen des Lebens konfrontiert zu werden und auf alle Charaktere sowie alle sozialen Situationen zu treffen, die diese Welt zu bieten hat«. Von »kurios bis todtraurig« sei alles vertreten.
Im Rettungsdienst, so heiße es, müsse man »aus Scheiße Bonbons machen können«, sagt Rupp. Das ist selbstverständlich nicht im Wortsinne gemeint. Es bedeutet vielmehr: »Mit begrenzten Mitteln müssen wir fähig sein, eine sehr anspruchsvolle medizinische Versorgung zu gewährleisten - und für einen kritischen Patienten, den wir bis zum Betreten der Wohnung noch nicht kannten, unter eventuell schlechten Licht- und Raumverhältnissen das Beste zu erreichen.« Hin und wieder sei dann auch Kreativität gefragt: Einen bewusstlosen Drogenkonsumenten beispielsweise habe er vor einem offenen Kühlschrank wiederbelebt, weil in dessen renovierungsbedürftigem Zuhause sonst nirgends das Licht funktioniert habe. Überhaupt sei es erstaunlich und bedrückend, zu erfahren, unter welchen Umständen der Verwahrlosung und sozialen Vernachlässigung manche Patienten leben. »Das nimmt man genauso mit nach Hause wie die Fälle, bei denen Kinder gestorben sind - was zum Glück selten geschieht«, schildert der 41-Jährige.
Kuriose Erlebnisse
Ganz wichtig sind ihm in diesem Zusammenhang zwei Dinge: Zum einen, ein feines Sensorium dafür zu entwickeln, dass man sehr tief in die Intimsphäre anderer Menschen eintaucht (»Keine andere Berufsgruppe steht plötzlich nachts um 3 Uhr in fremden Schlafzimmern«). Zum anderen, dass er im Umgang mit den Patienten in all den Jahren nicht abgestumpft sei. Solange ihn die Erlebnisse noch beschäftigen, bewegen und berühren, »funktioniere ich als Mensch normal«. Wer nur noch genervt sei und alles an sich abprallen lasse, sollte hingegen ernsthaft darüber nachdenken, den Job zu wechseln. Dennis Rupp haben jedenfalls bisher selbst verbale oder körperliche Attacken - von jungen Erwachsenen, die in eine Schlägerei verwickelt waren und sich verletzten, ist er sogar schon mit dem Tode bedroht worden - nicht abschrecken können.
Der Job ist allerdings nicht nur ernst, bisweilen gehe es auch recht skurril zu. Als Beispiel berichtet er vom Notruf einer Frau an Weihnachten, deren Ehemann im verschlossenen Bad keinen Mucks mehr machte. Notarzt, Feuerwehr und Polizei rückten an, klopften, erhielten keine Reaktion und brachen die Tür auf. Dort saß der gute Herr wohlauf und bekundete, nach einem Streit mit der Gattin bloß seine Ruhe haben und mit niemandem mehr reden zu wollen. Bei einem anderen Einsatz wollte ein psychisch kranker Mann seinen Balkon anzünden - und zwar tanzend, indem er den Feuergott beschwor.
Grundsätzlich fällt dem DRK-Mitarbeiter zunehmend auf, dass immer mehr Menschen »keine Vorstellung davon haben, was eigentlich ein Notfall ist und wann sie welche Nummer wählen müssen«. Sie meldeten sich selbst wegen Halsschmerzen, weil sie glauben, es stecke etwas Schlimmeres dahinter. Solche Bagatelleinsätze seien ein wachsendes Problem. Zumal sie wiederum Kapazitäten binden und ohnehin Personal fehlt. Aber das ist nochmal eine andere Geschichte.