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Von Nazis »direkt von der Arbeitsstelle abgeholt«

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Von: Heidrun Helwig

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Lange vergessene Opfer: Rinaldo Strauß vereint gemeinsam mit Angehörigen der Gießener Sinti und Jenischen einzelne Rosen für die Deportierten. Foto: Helwig © Helwig

Die Stadt Gießen erinnert mit einer Gedenkstunde an die Deportation von Sinti und Jenischen vor 80 Jahren. Dabei skizzieren Studierende der JLU auch einige Verfolgungsschicksale.

Gießen. Es ist ein liebevoller Blumengruß, den Sidonie Winkel aus der Ferne nach Gießen gesendet hat. Eine bescheidene Geste - auch im Namen ihrer Geschwister. »In Gedenken für unsere Mutter Hedwig« steht in zarten goldenen Buchstaben auf der weißen Schleife. Gefolgt von dem Zusatz »Deine Kinder«. Das Bouquet in dezenten Frühlingsfarben liegt am Fuß des Mahnmals für die Verfolgten des Nationalsozialismus am Berliner Platz. Neben einer Schale mit rosafarbenen Rosen, die dort zum 80. Jahrestag der Deportation vom 16. März 1943 an Gießener Sinti und Jenische erinnern.

Hedwig Kersten erlitt dieses grauenvolle Schicksal bereits im Sommer 1940. Fast fünf Jahre lang war die zierliche kleingewachsene Frau im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Von dort wurde sie im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in ein Rüstungsunternehmen in Dresden verschleppt. Die junge Mutter überlebte Ausbeutung, Schindereien und Hunger. Als Opfer der NS-Rassenpolitik aber wurde sie in ihrer Heimatstadt bislang kaum wahrgenommen. Deshalb sind die Recherchen zur Leidensgeschichte von Hedwig Kersten, die erstmals in einem ganzseitigen Artikel im Anzeiger veröffentlicht wurden, für Sidonie Winkel von ganz besonderer Bedeutung. »Ich bin sehr dankbar, dass meine Mutter nun eine Stimme erhält«, betont sie im Telefongespräch. Zumal die 1949 geborene jüngste Tochter der Holocaust-Überlebenden kaum eine Erinnerung an sie hat. Durch die Nachwirkungen der KZ-Haft körperlich stark angegriffen, starb Hedwig Kersten im Februar 1951 - im Alter von nur 32 Jahren.

Die Veranstaltung der Stadt, die seit 2012 zum Gedenken an den Transport von 15 Mitgliedern der Familie Klein in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau stattfindet, widmet sich auch der Mutter von Sidonie Winkel. Studierende der Justus-Liebig-Universität haben sich in einem Seminar mit Gießener Frauen im KZ Ravensbrück beschäftigt und skizzieren im Hermann-Levi-Saal die Stationen der Verfolgung. Dazu zählten Johanna Klein, Elisabeth Mettbach und die in Gießen unvergessene Sintezza Anna Mettbach. Alle drei erlebten zunächst den Schrecken des »Zigeunerfamilienlagers« in Auschwitz-Birkenau, bevor sie in das KZ bei Fürstenberg an der Havel verfrachtet wurden.

JLU-Studierende skizzieren Stationen der Verfolgung

»Das, was uns die Listen und diese Sorgfalt ermöglichen, im Rückblick herauszufinden, ist gleichzeitig das, was mich in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen in der NS-Zeit immer wieder in einem besonderen Maß erschreckt und erschauern lässt: Das ist die bürokratische Seite des nationalsozialistischen Regimes, mit dem es die von ihm Ausgegrenzten systematisch aufspürte und in einem großen Plan vernichtete«, sagt Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher zum Auftakt der Gedenkstunde, zu der er auch Angehörige und Nachfahren der Gießener NS-Opfer begrüßen konnte und die musikalisch von Emily Härtel am Violoncello umrahmt wurde. Gleichzeitig betont der SPD-Politiker: »Genauso wie der Antisemitismus lange vor dem Nationalsozialismus verbreitet war, begann auch die Stigmatisierung von Sinti, Roma und Jenischen lange vor dem ›Dritten Reich‹.« Und er zeigt auch auf, dass Ausgrenzung und Diskriminierung sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges beinahe unvermindert fortsetzten.

Rinaldo Strauß vom Landesverband Hessen Deutscher Sinti und Roma verdeutlicht im Anschluss, dass die Nazis Angehörige der Minderheit im Frühjahr 1943 in vielen Städten des damaligen Deutschen Reiches zusammentrieben und deportierten. »Sie wurden aus ihren Wohnungen oder oft auch direkt von der Arbeitsstelle abgeholt.« Und er fügt hinzu: »Ich stehe heute nur vor Ihnen, weil meine Eltern das Glück hatten, zu überleben.« Sie haben jedoch - wie viele andere - den Großteil ihrer Familie verloren und unvorstellbare Pein ertragen müssen. Fast alle Überlebenden seien trotzdem in ihre Heimatstädte zurückgekehrt. »Denn dort war ihr Zuhause.«

Das gilt auch für Johanna Klein, die im Alter von 13 Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern am 16. März 1943 weggebracht wurde. »Nach der Befreiung bin ich mit einer Freundin auf der Autobahn bis nach Gießen gelaufen«, berichtete sie vor einigen Jahren im Interview mit dem Anzeiger. Von Auschwitz-Birkenau war sie zunächst nach Ravensbrück und dann nach Schlieben gebracht worden, ein Außenlager des KZ Buchenwald, in dem sie Zwangsarbeit leisten musste, fasst Kevin Schaub von der JLU zusammen. Von dort kam sie in das Lager Altenburg, in dem sie ebenfalls in einem Rüstungsbetrieb Frondienste verrichtete. Der Student zeichnet anschließend kurz das Schicksal von Hedwig Kersten nach, bevor sich seine Kommilitonin Hannah Görg dann Elisabeth Mettbach widmet, der Schwägerin von Anna Mettbach. Sie wurde gemeinsam mit ihren Eltern, der Schwester Maria und dem Bruder Heinrich sowie ihrem Neffen Ewald Mitte Mai von Gießen nach Auschwitz deportiert. Auch sie musste verschiedene KZ und Zwangsarbeit durchleben, bevor sie an die Lahn zurückkehren konnte.

Anna Mettbach hingegen stammte aus der Wetterau und lernte nach der Befreiung in Frankfurt ihren Mann Ignatz kennen, der schon 1941 in Buchenwald eingesperrt worden war, rekapituliert Katharina Spies. Mit ihm kam sie nach Gießen. »Anna war eine wichtige Persönlichkeit in der Aufarbeitung der Sinti und Roma.« Dafür erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen - darunter die Hedwig-Burgheim-Medaille.

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