1. Startseite
  2. Stadt Gießen

Von Sonntagsreden und alten Platten

Erstellt:

giloka_2708_Liebigschukl_4c
Eine (fast) unendliche Geschichte: die marode Turnhalle der Liebigschule. Archivfoto: Friese © Red

Eine aktuelle Bestandsaufnahme nach sportlichen Abstiegen und mehreren Verzögerungen beim Sporthallen-Bau in Gießen.

Gießen . Alle Jahre wieder darf man in Gießen ins Regal mit den alten Platten greifen, die zerkratzte Scheibe rausholen, einmal den Staub wegblasen und langsam den Tonarm mit der Abspielnadel auflegen. Und dann erklingt die Melodie, immer wieder gespielt, wenn auch nicht gerne gehört: Das Lied vom Dauerstau im Sporthallenbau.

Wenn die Junge Union vor den Ferien in einer Pressemitteilung anmahnte, der Spitzensport werde in Gießen nicht genügend unterstützt, dann mag man das schulterzuckend zur Kenntnis nehmen. Denn natürlich sind die 46ers Imageträger der Stadt, beim FC Gießen darf man das nach den Entwicklungen der vergangenen Jahre bezweifeln, aber es scheint ja wieder zu werden - doch: Ist das wirklich das Hauptproblem der vermeintlichen Sportstadt?

Ganz ehrlich: Dieser Begriff gehört in die Nostalgietonne, denn Gießen ist keine Sportstadt. Dieses Siegel der Selbstbeschreibung bläht nur Uralt-Erwartungen auf, die angesichts der Realitäten schon lange in sich zusammenfallen.

Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher hat zurecht einerseits vor einigen Wochen darauf hingewiesen, dass man nicht kurzsichtig über tagesaktuelle (sportliche) Entwicklungen die Unterstützung für Vereine definieren dürfe, aber die Macht des Faktischen beweist andererseits, dass die Gießen 46ers und der FC Gießen mit dem Abstieg die wichtigsten Argumente verspielt haben, ihnen den roten Teppich städtischer Unterstützung auszurollen. Die Vereine waren und sind selbstverantwortlich, ihre (sportlichen) Hausaufgaben zu machen. Auch wenn deren Bedingungen tatsächlich prekär sind. Aber der Sport in dieser Stadt ist mehr als 46ers und FC Gießen. Denn beide arbeiten auch selbst hartnäckig am Bedeutungsverlust. Die Abmeldung der Rackelos, der Verlust von Urgesteinen wie Kraushaar und Uhlemann machen das ebenso deutlich wie die bald zweijährige Notstandsverwaltung beim FCG, ohne Ende in Sicht. Den großen Wert der Identifikation erfüllen beide Vereine momentan nur solala.

So gesehen hat die Junge Union mit ihrer Kritik an der angeblich zögerlichen sportpolitischen Ausrichtung sommerlich-warme Oppositionsluft herausgeblasen. Gut aber, dass wir mal drüber gesprochen haben. Denn Bechers Idee, einen Sportentwicklungsplan noch in diesem Jahr anzugehen, wesentliche Akteure an einen Tisch zu holen und die Bedeutung von Breiten- wie Leistungssport, Vereins- wie freie Sportszene zusammenzudenken, ist deutlich mehr, als in 30 Jahren zuvor passierte.

Aber die Realitäten, unabhängig von der die finanziellen und planerischen Unwägbarkeiten vergrößernden Krise, holen den guten Willen schon ein, da der Startschuss kaum verklungen ist. Und dabei geht es wahrlich nicht nur um die »Big Player«. Denn das, was als Paradebeispiel an der Liebigschule passiert, gibt Anlass, um den Oppositionsfinger in die Wunde zu legen. Vor den Sommerferien 2021 hieß es, die Doppelturnhalle werde (in den Sommerferien) abgerissen. Im Frühjahr 2022 gab es Hoffnung auf den Abriss in den nun laufenden Sommerferien. Und jetzt ist klar, dass es in den Sommerferien 2023 passieren soll. Wer’s glaubt?!

Kaum zu glauben ist tatsächlich, dass eine »Partnerschule des Sports« mit einem Renommee wie die Lio bis dann ihr fünfjähriges hallenloses Jubiläum feiern muss. Unabhängig von Verantwortlichkeiten und Schuldzuweisungen, vermutlich will es wieder keiner gewesen sein, sollte hier an entscheidenden Stellen Tacheles geredet und sich bei den Schülerinnen und Schülern entschuldigt werden. Schülerinnen und Schüler, die in Sportklassen das vorleben wollen, was eine »Gesunde Stadt der Bewegung« anbieten will. Schülerinnen und Schüler, die in die bürokratischen Mühlen geraten sind. In die Mühlen eines seit Jahrzehnten absehbaren Staus, der unter anderem dafür sorgte, dass zeitgleich Theo-Litt-Halle und Lio zu Baustellen wurden, dass Lehrer mit ihren Klassen in Stadtbussen von Halle zu Halle irrten, dass eine Leichtbauhalle auf dem MTV-Sportplatz als Lösung angepriesen wurde, wo sie doch für jeden ersichtlich nur eine Krücke ist. Die Sonntagsreden, in denen darüber schwadroniert wird, dass Kinder und Jugendliche unsere Zukunft sind, dass wir für Bewegungsangebote sorgen und sie von der Straße in Vereine holen, dass geregelter Schulsport geboten werden muss - diese Sonntagsreden sind am Montag leider schon das Papier nicht mehr wert, auf dem sie stehen. Und das hat nicht nur mit aktueller Krise, sondern auch weitsichtiger Planung zu tun.

Wer einmal quer durch die Niederlande fährt und die vielfältigen Sportanlagen am Rande der Ortschaften begutachtet, weiß, was ein guter Plan ist. Und so harren wir der Dinge, die da kommen. Hoffen auf einen Sound, der Sport und Schule den Rhythmus bringt, den sie brauchen und verdienen. Aber den Plattenspieler behalten wir - vermutlich werden wir die olle Platte noch öfter hören müssen.

Auch interessant