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Vorposten gegenüber dem Westen

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Ziemlich beste Freunde: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, Präsident von Belarus, nach ihren Gesprächen am 18. Februar im Kreml. © Sergei Guneyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Gießen. Prof. Thomas Bohn ist Historiker am Institut für Osteuropäische Geschichte der Justus-Liebig-Universität (JLU) und gilt als Belarus-Experte. Der 58-Jährige hat das in der westlichen Welt vormals nahezu unbekannte Land unzählige Male bereist und pflegt enge Partnerschaften in die »letzte Diktatur Europas«, die unter der autokratischen Herrschaft des Machthabers Alexander Lukaschenko steht.

Im Interview schildert er, welche Rolle Belarus in Putins strategischen Planungen spielt, was die belarusischen Medien über den Krieg berichten und weshalb Bohn nicht davon ausgeht, dass Lukaschenko große Risiken eingehen wird.

Prof. Bohn, was kriegen Sie denn derzeit aus Belarus mit, wenn es um das Thema Ukrainekrieg geht?

Wir haben hier in Gießen traditionell gute Beziehungen. Auch in diesem Semester sind Gastwissenschaftler vor Ort, sodass ich durchaus gut informiert bin. Hintergrund des Ganzen ist natürlich eine Atmosphäre der Angst. Bereits um die Jahreswende fing wieder eine Repressionswelle an, die sich insbesondere gegen Hochschulangehörige und Institutsangehörige richtet. Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine herrscht große Irritation. Alle Leute, die ich kenne, sind besorgt und haben Angst. Sie wissen nicht, was los ist.

Und wie reagieren die belarusischen Staatsmedien auf das Thema Ukrainekrieg?

Da muss ich in Anführungszeichen sprechen: »Das weiß keiner«, denn Belarusinnen und Belarusen lassen die Staatsmedien links liegen. Sie informieren sich über andere Kanäle. Die Staatsmedien folgen natürlich dem russischen Beispiel und verbreiten die Propagandamythen. Bei der Bevölkerung ist eher der Telegram-Kanal beliebt. Da werden Erfahrungen ausgetauscht. Die Menschen befinden sich in einer Beobachtersituation. Man blickt auf die Verhältnisse und überlegt, wie damit umzugehen ist.

Im Hinblick darauf, dass Belarus und Russland durchaus enge Beziehungen haben: Inwiefern ist denn Alexander Lukaschenkos Regime für Putins Pläne, auch was die Ukraine betrifft, relevant?

Belarus ist ja, wenn man den geopolitischen und geostrategischen Erwägungen Putins folgt, für Russland so etwas wie ein Vorposten gegenüber dem Westen, gegenüber der Nato. Deswegen wird das Bündnis momentan wieder gestärkt. Zu bedenken ist, dass Putin das Regime in der weiß-rot-weißen Revolution gestützt hat. Lukaschenko hat Putin das politische Überleben zu verdanken. Der belarusische Diktator kann jetzt beruhigt sein, denn die Weltöffentlichkeit zollt nicht mehr seinem Regime Aufmerksamkeit. Stattdessen richtet sie sich auf den Krieg in der Ukraine. Vor diesem Hintergrund kann Lukaschenko sein Regime stabilisieren.

Wie hat er denn sein Regime stabilisieren können?

Er hat, nach russischem Beispiel folgend, eine Verfassungsreform eingeleitet und in einem Referendum die neuen Beschlüsse bestätigen lassen. Sein Amt gilt als gefestigt, Militärhilfe gegenüber dem großen Bruder Russland ist vorgesehen, wurde bisher aber nur in Form von Truppenstationierung umgesetzt. Der Tabubruch, die Akzeptanz von russischen Atomwaffen, ist auch vollzogen, sodass Lukaschenko voll und ganz in das Fahrwasser von Putin geraten ist. Mittel- und langfristig ist das ein Risiko, denn die Abhängigkeiten werden dadurch verstärkt. Das Drama oder die Katastrophe für die weitere Entwicklung des Landes besteht darin, dass der Zivilgesellschaft jegliche Chancen genommen werden.

Auf der einen Seite steht Lukaschenko fest an der Seite Putins, auf der anderen Seite bietet sich Belarus als Konfliktvermittler an. Wie passt das zusammen?

Nach der Annexion der Krim hat sich Lukaschenko bei den Minsker Vereinbarungen von 2014/15 der Welt gegenüber mehr oder minder als ehrlicher Makler präsentieren können. Mag sein, dass ihm diese Position auch heute wieder gefallen könnte. Dass er über die Drehscheibe Ukraine meint, diplomatisch wieder Anerkennung finden zu können. Ich denke, das ist derzeit aber eher ein Vabanquespiel. Die Treffen, die bis dato zustande gekommen sind, fanden zwar im Grenzgebiet zwischen Ukraine und Belarus statt. Sie waren russischerseits aber eher von der zweiten und dritten Garde bestückt. Dennoch erhoffen sich alle zunächst einmal eine Perspektive für eine Waffenruhe.

Denken Sie, dass Lukaschenko Risiken eingehen wird, um Putin zu helfen?

Welche strategischen Überlegungen bei Lukaschenko momentan anstehen, das ist Spekulation. Ich denke, er wartet ab. Aufgrund der Geschichte seines Landes hat er Grund genug, vorsichtig zu sein. Zwar offenbarte er bei der Niederschlagung der Revolution des Jahres 2020 durchaus ein militaristisches Gebaren. So zeigte er sich in den Medien mit einer Kalaschnikow und meinte, als martialischer Landesvater auftreten zu können. Nun ist er aber gut beraten, sich zurückzuhalten und abzuwarten. In militärischer Hinsicht brauchen die Russen die belarusische Armee nicht. Sie nutzen aber die Gelegenheit, ihre Truppen in Belarus zu stationieren und Raketen auf die Ukraine zu feuern. Damit ist der Bündnisverpflichtung eigentlich Genüge getan. Allerdings deuten die letzten Signale, die aus Minsk zu empfangen sind, auf eine Bereitschaft zu riskanteren Abenteuern hin. Foto: JLU

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Thomas Bohn © Red

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