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»Vorreiterrolle« im zweiten Anlauf?

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Von: Ingo Berghöfer

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»Kein zahnloser Tiger«: Die Verantwortlichen im Rathaus hoffen, mit der überarbeiteten Satzung alle juristischen Vorbehalte ausgeräumt zu haben. Archivfoto: Mosel © Red

Die Stadt Gießen legt einen neuen Entwurf für die Satzung zur Beteiligung der Einwohnerschaft vor.

Gießen. Das Urteil aus Kassel war eindeutig: Die Bürgerbeteiligungssatzung der Stadt Gießen entspricht in wesentlichen Punkten nicht geltendem Recht, sondern verstoße in Teilen gegen die Hessische Gemeindeordnung (HGO). Sie dürfe daher »in der derzeitigen Form nicht weiter angewendet werden«, so die Juristen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes im Dezember 2021. Bestätigt wurden damit all jene Mahner, die von Anfang an Bedenken angemeldet hatten. Bereits 2015 hatte das Regierungspräsidium Gießen die Satzung per Verfügung beanstandet. Mit ihren Klagen dagegen scheiterte die Stadt. Nun nimmt Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher einen neuen Anlauf, eines der zentralen Projekte seiner Vorgängerin Dietlind Grabe-Bolz gerichtsfest neu zu regeln.

Die Kritik begann schon beim Namen: Der jetzt vorgelegte Entwurf spricht daher von einer Satzung zur Beteiligung der Einwohnerschaft, nicht mehr von einer Bürgerbeteiligungssatzung. Der Magistrat hatte in der ersten Fassung beide Begriffe synonym gebraucht. Juristisch sind aber nur Einwohner mit Wahlrecht Bürger. Es sei aber eben gerade das Ziel der Bürgerbeteiligung, dass sich alle Einwohner dieser Stadt mit ihren Anliegen einbringen können. Dem werde mit der Änderung Rechnung getragen.

Rechte zu stark eingeschränkt

Gravierender war indes der Einwand, dass die Satzung in ihrer ursprünglichen Form die Rechte der gewählten Volksvertreter zu stark einschränken würde. So sei nämlich allen Bewohnern der Stadt und der Landkreisgemeinden das Recht gewährt worden, Fragen, Anregungen und Wünsche an die Stadtverordnetenversammlung zu richten. Das ist aber in der HGO nicht vorgesehen. Deshalb steht im neuen Entwurf, dass dieses Recht in der Geschäftsordnung der Stadtverordnetenversammlung eingeräumt werden kann.

Ähnlich verhält es sich bei den sogenannten Bürgerschaftsversammlungen. Gemäß der Ursprungsversion hätten diese zwingend durchgeführt werden müssen, wenn mindestens ein Prozent der Einwohnerschaft oder mindestens 50 Personen dies schriftlich unter Angabe des Verhandlungsgegenstands verlangt hätten. Künftig soll die Stadtverordnetenversammlung den Stadtverordnetenvorsteher lediglich ersuchen können, eine solche Versammlung durchzuführen, wenn mindestens ein Prozent der Einwohnerschaft dies schriftlich verlangt.

Aus dem alten Bürgerantrag ist in der neuen Fassung die Einwohnerpetition geworden. Die Mindestzahl von 50 Einwohnern bezieht sich jetzt nur noch auf die Ortsbezirke und nicht mehr auf die gesamte Stadt. Neu eingefügt wurde hier der Passus: »Der Stadtverordnetenversammlung steht es frei, sich den Petitionsantrag zu eigen zu machen und ein Vertreterbegehren nach Paragraph 8B HGO hierüber zu beschließen.«

Neu geregelt ist ebenfalls die »vorhabenbegleitende Einwohnerbeteiligung«. Während es bisher hieß, dass die Einwohnerschaft vom Magistrat an ausgewählten Vorhaben »in geeigneter Weise« beteiligt wird, soll diese Beteiligung mit der neuen Satzung beispielsweise durch »konsultative Einwohnerräte«, die im Losverfahren zu bestimmen sind, gesichert werden. Damit übernimmt die Stadt Gießen ein Modell, dass derzeit vielfach diskutiert wird, etwa bei »Fridays for Future«. Verfechter dieses Modells versprechen sich von ausgelosten Bürgerräten eine höhere Repräsentanz, weil durch diese auch Stimmen Gehör fänden, die in den traditionellen Parlamenten eher unterrepräsentiert sind.

Frank-Tilo Becher zeigte sich bei der Vorstellung der neuen Satzung zuversichtlich, dass dieser Entwurf rechtlichen Bestand haben werde. Die Änderungen seien im konstruktiven fachlichen Austausch mit den Aufsichtsbehörden - dem Regierungspräsidium Gießen und dem hessischen Innenministerium - erarbeitet worden. »Wir haben auch gelernt.« Der Oberbürgermeister betonte noch einmal, dass man nach wie vor die Beteiligung der Gießener an der kommunalen Politik fördern wolle. Aber: »Die Rechte, die wir unseren Einwohnern geben möchten, dürfen nicht über das hinausgehen, was die Hessische Gemeindeordnung erlaubt.«

Transparenz schaffen

Auch wenn die Mitbeteiligung der Bürger rechtlich nicht mehr so stark sei, wie sich der Magistrat dies eigentlich wünsche, gelte nach wie vor der Grundsatz, der beiden Fassungen der Satzung vorangestellt wird. Dass es nämlich deren Ziel sei, durch eine mitgestaltende Einwohnerbeteiligung an kommunalen Planungs- und Entscheidungsprozessen Transparenz zu schaffen, das Vertrauen zwischen der Einwohnerschaft, Verwaltung und Politik weiter zu stärken und die demokratische Diskussionskultur ergebnisorientiert auszubauen.

Wenngleich die Stadtverordnetenversammlung nicht mehr richtig an Bürgeranträge gebunden sei, könne diese sich kaum einem Anliegen verschließen, das von einer großen Zahl der Bürger vorgetragen werde. »Ein zahnloser Tiger ist diese Satzung nicht«, versicherte der Oberbürgermeister.

Mit ihrer Bürgerbeteiligungssatzung hatte die Stadt Gießen vor acht Jahren Neuland betreten. Viele andere Kommunen beobachteten seitdem, ob und wie diese Satzung umgesetzt wird, um gegebenenfalls ähnliche Regelungen zu verabschieden. Gießen könnte damit eine Vorreiterrolle einnehmen. In der kommenden Sitzung der Stadtverordneten soll über die Änderungen beraten werden.

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