Warnung vor »Klima der Angst«

Gießen. Ein junger Mann aus Eritrea wurde am 3. Januar bei einem Streit in der Bahnhofstraße von einem Landsmann mit mehreren Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Obwohl der 30 Jahre alte, mutmaßliche Angreifer schon zwei Tage später festgenommen werden konnte und seitdem wegen des dringenden Verdachts des versuchten Totschlags und der gefährlichen Körperverletzung in Untersuchungshaft sitzt, machen weder Polizei noch Staatsanwaltschaft derzeit Angaben zu einem möglichen Motiv.
Die Hintergründe des Vorfalls seien Gegenstand der aktuellen Ermittlungen, teilt Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger, Pressesprecher der Gießener Strafverfolgungsbehörde, auf Anfrage des Anzeigers mit. Dabei werde auch untersucht, ob die Tat gegebenenfalls politisch motiviert sei. »Verlässliche Aussagen hierzu können in diesem frühen Ermittlungsstadium noch nicht getroffen werden«, ergänzt Hauburger und bittet um Verständnis, dass sich die Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Motivlage jeglicher Spekulationen enthalte.
Eine politische Tat?
Andere sind da weniger zurückhaltend. So stellt die in Frankfurt beheimatete Deutsch-Eritreische Gesellschaft (DEG) in einer Pressemitteilung einen direkten Bezug zwischen der Bluttat und den Ausschreitungen beim Eritrea-Festival im vergangenen August her. Recherchen hätten ergeben, dass der Angriff in der Chronologie der Übergriffe stehe, unter denen die eritreische Gemeinschaft in jüngster Vergangenheit zunehmend zu leiden habe, schreibt der Verein, der der eritreischen Regierung nahesteht. So habe der Täter als einer der Anführer der berüchtigten Terrorzelle »Briged Nihamedu« identifiziert werden können, die auch in Europa Gewaltakte ausführe. Und diese gewaltbereite Gruppe arbeite wiederum teilweise mit »sogenannten eritreischen Regierungsgegnern« zusammen. Weiterhin ist die DEG überzeugt: »Der Täter des jetzigen Vorfalls war auch an den gewalttätigen Angriffen auf Helfer eines eritreischen Konzerts am 20. August 2022 in Gießen maßgeblich beteiligt. Ebenso wie die Gruppe, der er angehört, hat er auch persönlich mit zahlreichen Beiträgen und Videos in den sozialen Medien zur Gewalt gegen in Deutschland lebende Eritreer aufgerufen.«
Die DEG fragt zudem, wie es sein könne, dass nach den schweren Gewalttaten in Gießen, bei denen die Personalien der meisten Täter festgestellt worden seien, die »auf der Hand liegenden Zusammenhänge mit der gewaltsamen Kampagne gegen das Land Eritrea und seine Regierung« immer noch ignoriert würden?
Befürchtet wird, dass in Zukunft weitere Anschläge auf eritreische Vereine und deren Mitglieder ausgeübt werden könnten. Daher warnt die DEG vor einer »inkonsequenten Strafverfolgung gegenüber diesem gewaltbereiten Personenkreis«. Dies würde viele in Deutschland lebende Eritreer einem Klima der Angst und großen Gefahren aussetzen.
In einer auf Facebook veröffentlichten Erklärung widerspricht indes die Familie des Opfers dieser Darstellung. In der in der Landessprache Tigrinya verfassten und mithilfe des »Google Translators« übersetzten Stellungnahme heißt es sinngemäß, dass jeder, der den Frieden wolle, wissen sollte, dass die Familie ihr Bestes tun werde, damit ihrem Sohn vor Gericht Gerechtigkeit widerfahre.
Obwohl der Fall noch nicht rechtskräftig sei, habe es in den vergangenen Tagen eine Hasskampagne sowohl in den Medien als auch in den Foren verschiedener Gruppen im Internet gegeben. »Wir haben diese Hasskampagnen aufmerksam verfolgt (...). Die ganze Familie fordert alle, die versuchen, diesen Angriff auf unseren Sohn umzudeuten, dringend auf, sich dieser Angelegenheit zu enthalten. An diejenigen von ihnen, insbesondere diejenigen, die sich auf YouTube und anderen Medien beteiligen, wird appelliert, »unverantwortliche Beiträge zu unterlassen, bis die Angelegenheit gesetzlich geklärt ist«. Und: »Wir bitten besonders diejenigen unter Ihnen, die versuchen, Feindschaft zwischen Völkern zu schaffen, dies zu unterlassen und sich von dieser illegalen und unethischen Kampagne fernzuhalten.«
Darüber hinaus wird bekräftigt, dass man jeden strafrechtlich verfolgen werde, der glaube, »aus dieser Attacke auf unseren Sohn und Bruder politische und religiöse Vorteile ziehen« zu können.
Nach Angaben von in Gießen lebenden Eritreern, die das mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassene Opfer persönlich kennen, wurde diese Stellungnahme tatsächlich von dessen Familie verfasst. Der im Text erwähnte Name des Opfers wird auch von der Staatsanwaltschaft bestätigt. Verwandte und Freunde des Opfers sammeln zudem auf einer Online-Plattform Geld für den Mann, bis Donnerstag sind 3330 Euro zusammengekommen.
Auf dieser Seite steht auch, »dass unser geliebter Sohn und Bruder« aufgrund der Situation in seiner Heimat durch die Wüste und über das Meer nach Europa geflüchtet sei. Da die Ursache und die Umstände des Vorfalls in den Händen der Justizbehörden lägen, sei man der Ansicht, dass es nicht nötig sei, auf die Details des Vorfalls einzugehen. Jetzt müsse der Fokus auf der Genesung des Schwerverletzten liegen.
Auch der eritreischen Regierung nahestehende Bekannte des Opfers bestätigen, dass dieser vor einigen Jahren aus Eritrea geflüchtet sei und dann in Deutschland Asyl beantragt habe. Das spricht gegen ein von der DEG behauptetes, rein politisches Motiv des nach deren Einschätzung radikalen, oppositionellen Täters.