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Was er liebt und was er hasst

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David Gaviria Foto: Czernek © Czernek

Gießen . Privilegien werden von vielen unbewusst als selbstverständlich hingenommen. Seinen eigenen, höchstpersönlichen Blick auf dieses Thema warf Davíd Gavíria, Mitglied des Schauspielensembles des Stadttheaters, am Sonntagabend im Kleinen Haus mit seiner Solo-Performance »Call in [Call out]«. Der Begriff »To call in« bedeutet so viel wie »bei jemandem vorbeischauen«;

»call out« kann »ausrufen« ebenso wie »anprangern« bezeichnen. In diesem Spannungsfeld versuchte Gavíria sein Statement zu setzen. Im nackten Bühnenraum waren nur er, ein Mikrofon und etliche Zuschauer, die er nach und nach in sein Spiel hinein zog.

Der Schauspieler, Jahrgang 1997, ist seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied in Gießen. Er wuchs in Bogotá (Kolumbien) auf und kam mit 17 Jahren nach Europa. Seine Mutter durfte als erste innerhalb ihrer Familie studieren, er selbst erhielt die Möglichkeit, sich auf unterschiedlichen Feldern auszuprobieren. Ihm ist bewusst, wie sehr er damit privilegiert war. In einem ungeheuren Tempo schleuderte er dem Publikum eine lange Liste dazu entgegen, dabei mit viel Sprachgefühl zwischen Spanisch, Englisch und Deutsch hin- und herwechselnd.

Alles was dieses Energiebündel liebt oder hasst, rief er den Zuschauern entgegen. Dabei holte er kaum Luft und spiegelte zugleich die Ambiguität vieler Gefühle wider. Den Untergang der Welt versuchte er mit einem eigenen Lied auszudrücken, das nur aus einem langanhaltenden Schrei der Verzweiflung besteht. Die Assoziation zum Gemälde »Der Schrei« von Edvard Munch drängte sich beklemmend auf.

Doch ganz allein wollte der Künstler den Abend nicht füllen: Er forderte das Publikum auf, mit ihm das »Privilegien-Spiel« zu spielen. Jeder bekam einen fiktiven Charakter, in den er sich hineinversetzen sollte. Anschließend wurden Fragen dazu gestellt, wer sie bejahen konnte, durfte einen Schritt nach vorne gehen. Zum Schluss blieben nur vier Personen übrig, die sich der Frage stellen mussten, wie privilegiert sie sich jetzt fühlten. Diese Fragezeichen wurden nicht aufgelöst, sondern durch eine gemeinsame Salsa-Lektion für alle geglättet.

Und so spontan und unvermittelt die Performance begann, so schnell und abrupt endet sie nach knapp 40 Minuten. Noch ein Salsa-Tänzchen mit allen, dann der ernüchternde Aufruf: »Danke, das wars«, der das Publikum und Mitspieler etwas ratlos zurückließ. »Das kann doch nicht alles gewesen sein?«, war zu hören. Doch, das war es - was zu weiteren Diskussionen anregte.

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