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»Weder absichtlich noch fahrlässig«

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Gießen/Dannenrod. (ib). Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber gründlich - und in ihrem ganz eigenen Tempo.

Am 26. November 2020 war die Umweltaktivistin »Ella« bei der Räumung des Baumhaus-Dorfes »Nirgendwo« auf der Trasse der A 49 festgenommen worden, weil sie zwei SEK-Beamte mit Tritten und Schlägen gefährlich verletzt haben soll. Das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts Alsfeld wurde am 2. April 2022 im Berufungsverfahren vom Landgericht Gießen weitgehend bestätigt, das die Aktivistin zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilte.

Noch länger dauerten allein die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Gießen zu einem anderen Vorfall, der sich elf Tage vor »Ellas« Verhaftung am 15. November 2020 im besetzten Wald zugetragen hat.

Am Morgen dieses Tages trennte ein Polizist das Halteseil eines Tripods durch und löste damit den Sturz einer Aktivistin aus mehreren Metern Höhe aus, die sich dabei zwei Rückenwirbel brach. Der Polizist zeigte sich selbst bei seinen Kollegen an, worauf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen begannen. Die wurden schließlich am 9. Juni dieses Jahres abgeschlossen, wie jetzt der stellvertretende Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Gießen, Rouven Spieler, auf Anfrage mitteilte. »Das Ermittlungsverfahren gegen den Polizeibeamten wurde gemäß Paragraf 170 II Strafprozessordnung eingestellt, da kein Anfangsverdacht einer strafbaren Handlung vorliegt, insbesondere nicht der vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung im Amt«, so Spieler wörtlich.

Nach dem Ergebnis der Ermittlungen habe sich weder ein Vorsatz- noch ein Fahrlässigkeitsvorwurf gegen den Beamten, der das Seil durchtrennte und den Absturz aus dem Tripod verursachte, begründen lassen.

Umfangreiche Ermittlungen zu den örtlichen Gegebenheiten, der Konstruktion des Tripods und dem individuellen Kenntnisstand des Beschuldigten hätten zu dem Ergebnis geführt, dass eine vorsätzliche Begehungsweise völlig fernliegend ist und auch ein Sorgfaltsverstoß nicht festgestellt werden könne.

Dem Beschuldigten, der am Tag des Vorfalls seinen ersten Einsatztag im Dannenröder Forst hatte, sei damals unter anderem aufgetragen worden, störende Gegenstände zu beseitigen. Letzteres auch vor dem Hintergrund, dass bereits zuvor im Bereich Dannenröder Forst/Herrenwald zahlreiche Fallen für Mensch und Polizeipferde konstruiert worden seien, so Spieler, die zu schweren Verletzungen hätten führen können.

Darüber, dass nur höherrangige Beamte zum Lösen von Seilen befugt waren, war der Polizist zu diesem Zeitpunkt aufgrund eines heute nicht weiter aufklärbaren »Kommunikationsversehens« noch nicht informiert worden.

Ferner sei mit bloßem Auge aufgrund der verworrenen Konstruktion nicht zu erkennen gewesen, dass das handelsübliche Seil, das zudem weder straff gespannt noch irgendwie markiert gewesen sei, einen Tripod hielt.

Aus Sorgfaltsgesichtspunkten sei dem Polizisten auch nicht zuzumuten gewesen, seinen Auftrag zu vernachlässigen und jedwedes störendes Seil an seinem Platz zu belassen, da er nicht damit habe rechnen müssen, dass sich Menschen in derart große Gefahr bringen, sich in Konstruktionen zu setzen, deren Halteseile an Stellen gespannt sind, von denen aus man den Tripod nicht sieht. Vielmehr durfte der Beamte nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Gießen am Tag des Vorfalls davon ausgehen, dass es sich nur um ein Seil handelte, das die Arbeit der Bauarbeiter und der Polizei behindern sollte oder zu diesem Zeitpunkt keinen Zweck (mehr) erfüllte.

Da es zudem nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes für die Frage der Strafbarkeit darauf ankomme, ob der Verletzungserfolg für den Handelnden objektiv und individuell voraussehbar war, habe man letztendlich auch einen Fahrlässigkeitsvorwurf verneinen müssen, so der Pressesprecher abschließend.

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