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Wenn der Freitag zum freien Tag wird

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Von: Eva Pfeiffer

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Jochen Thiele © Eva Pfeiffer

Ein Gießener Handwerksbetrieb stellt auf die Vier-Tage-Woche um - und hofft auf neue Auszubildende

Gießen . Von Montag bis Freitag an den Arbeitsplatz und auch das Wochenende ist so voll mit privaten Terminen, dass die kurze Auszeit in Windeseile vergeht und die Erholung auf der Strecke bleibt. Wer ein langes Wochenende möchte, der muss auf einen günstig gelegenen Feiertag hoffen oder einen der kostbaren Urlaubstage opfern. Aber es geht auch anders: Mit der Vier-Tage-Woche, die zwar immer mal wieder diskutiert, aber selten umgesetzt wird. Ein Gießener Handwerksbetrieb dagegen probiert es nun aus. Am gestrigen Freitag blieben die Firmenfahrzeuge von Thiele Heizung & Sanitär auf dem Betriebsgelände im Gewerbegebiet West stehen, die Mitarbeiter hatten sich bereits am Donnerstagabend in das wohlverdiente Wochenende verabschiedet. Künftig soll das jede Woche so laufen.

»Für uns ist das eine Win-win-Situation«, sagt Geschäftsführer Jochen Thiele im Gespräch mit dem Anzeiger. »Die Mitarbeiter haben ein langes Wochenende und kommen am Montag entspannt und ausgeruht zur Arbeit.« Der 54-Jährige hofft, mit der Umstellung auf eine Vier-Tage-Woche nicht nur das vorhandene Personal halten, sondern auch neue Mitarbeiter gewinnen zu können - insbesondere auch Auszubildende. Denn: »Gerade den Jüngeren ist Freizeit oft wichtiger als Geld«, hat der Chef festgestellt.

Kürzungen beim Gehalt muss aber kein Mitarbeiter befürchten, allerdings wird auch nicht weniger gearbeitet - die Arbeit wird lediglich anders verteilt. Statt wie bisher jeweils acht Stunden an fünf Tagen, arbeitet Thieles Team nun jeweils zehn Stunden an vier Tagen. Freitags spart man sich dafür den Weg zur Arbeit und auch der Wecker kann ausbleiben.

Bereits vor einigen Monaten hatte Jochen Thiele das neue Konzept mit seinem Team besprochen, die Resonanz sei durchweg positiv gewesen. Nach dem Betriebsurlaub über die Weihnachtsferien startete am Montag die erste Vier-Tage-Woche. Ein Zehn-Stunden-Tag sei zwar lang und man müsse sich erst einmal daran gewöhnen, räumt Thiele ein. Aber dafür sorge das längere Wochenende für eine bessere Balance zwischen Arbeit und Privatleben. Die neue kurze Woche hat das Unternehmen zunächst für sechs Monate auf Probe vorgesehen. Der Geschäftsführer ist aber zuversichtlich, dass es auch danach dabei bleibt.

»Wichtig ist, dass wir noch strukturierter arbeiten.« Falls etwa wegen einer Fehllieferung ein halber Tag auf der Baustelle fehlt, falle das künftig noch stärker ins Gewicht. Auch müsse vorab mit den Kunden geklärt werden, dass die Räumlichkeiten auch zur späteren Zeit noch zugänglich sind.

Dass die verkürzte Arbeitswoche überhaupt möglich ist, liegt auch daran, dass der Gießener Betrieb größtenteils öffentliche Aufträge erledigt. Hätte man mehr Privatkunden, wäre ein freier Freitag möglicherweise nicht umsetzbar, vermutet Thiele.

48 Mitarbeiter hat er derzeit, darunter sieben Auszubildende. Sein Team sei sehr jung, trotzdem spürt auch Jochen Thiele - wie viele Handwerker -, dass es schwierig ist, Nachwuchs zu finden. »Auszubildende werden in ihrem Umfeld oft nicht ernstgenommen«, hat er festgestellt. Denn es werde zu viel Wert auf ein Studium gelegt, auch wenn manch ein Studierender im Handwerk besser aufgehoben wäre. Helfen könnte da laut Thiele auch, Auszubildenden ähnliche Vergünstigungen zu gewähren wie Studierenden.

Um potenzielle neue Mitarbeiter auf das lange Wochenende aufmerksam zu machen, hat Jochen Thiele bereits im Dezember ein Banner am Zaun des Betriebsgeländes angebracht und sein Mitarbeiter Alexander rührt sogar auf seinem privaten TikTok-Account @schmatz1290 die Werbetrommel. Den Chef freut’s: Sein Team solle »sich wohlfühlen und gerne arbeiten. Dafür wollen wir das Umfeld schaffen«.

Er selbst macht freitags übrigens nicht frei, will den Tag aber künftig für die Arbeiten nutzen, die er sonst samstags erledigt hat. Und auch für den Kundendienst im Büro bleibt es mangels Personal vorerst bei einer Fünf-Tage-Woche. Wenn der junge Kollege mit seiner Ausbildung fertig ist, sollen sich die beiden Mitarbeiter aber montags und freitags abwechseln können und so ebenfalls zu einem langen Wochenende kommen - ohne, dass die Kunden auf Erreichbarkeit verzichten müssen.

Die Vier-Tage-Woche wird derzeit auch in anderen Handwerksbetrieben diskutiert, um die Attraktivität des eigenen Unternehmens für potenzielle Mitarbeiter zu steigern. Dies berichtet Björn Hendrischke, Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Gießen, auf Anfrage des Anzeigers. Grund hierfür sei der hohe Fachkräftebedarf im Handwerk. »Innovative und flexible Arbeitszeitmodelle stellen bei der Suche nach Fachkräften immer mehr einen Wettbewerbsvorteil dar. Dies gilt insbesondere bei jungen Menschen, die einen größeren Wert auf die Work-Life-Balance legen und Familie und Beruf miteinander vereinbart sehen möchten. Monetäre Aspekte stehen hingegen bei der Wahl des Arbeitgebers nicht mehr so sehr im Vordergrund«, erläutert Hendrischke.

Ob eine Vier-Tage-Woche eingeführt werde, sei letztlich immer eine unternehmerische Entscheidung. Die Kreishandwerkerschaft Gießen unterstütze ihre Mitglieder dabei und berate insbesondere zu rechtlichen Aspekten, die bei einer Umsetzung des Arbeitszeitmodells zu beachten sind - etwa bei der Dauer von Pausen, Ruhezeiten oder der täglichen Höchstarbeitszeit. Auch tarifliche Regelungen könnten die individuelle Ausgestaltung einschränken.

Erfahrungen aus Skandinavien

Erfahrungswerte gebe es insbesondere aus den skandinavischen Ländern. Laut Studien leide die Produktivität nicht darunter, auch gehe die Zahl der Krankmeldungen zurück. »Allerdings ist der Mensch ein Gewohnheitstier«, betont Hendrischke. Auch auf die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz, die wichtig für die Teambildung seien, könnten die Komprimierung der Arbeitszeit negative Auswirkungen haben.

Letztendlich sei die Vier-Tage-Woche lediglich ein Modell im Rahmen der flexiblen Arbeitszeitgestaltung. »Auch saisonale Regelungen im Rahmen von Arbeitszeitkonten können zu einer spürbaren Entlastung der Arbeitnehmerschaft führen und damit die Attraktivität des Unternehmens steigern.« Foto: Pfeiffer

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Freitags bleiben die Fahrzeuge stehen: Bei Thiele Heizung & Sanitär wird nur noch von montags bis donnerstags gearbeitet. Foto: Pfeiffer © Pfeiffer

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