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Wenn der Kompass fürs Leben fehlt

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Von: Rüdiger Schäfer

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Horst Mathiowetz © Rüdiger Schäfer

Beratung, Begleitung und Ausdauersport: Bei einer Veranstaltung des Bündnisses gegen Depression in Gießen und der THM wurden verschiedene Hilfestellungen vorgestellt.

Gießen. Was ist das für eine - im wahrsten Sinne des Wortes - »traurige« Krankheit, von der 2020 deutschlandweit 432 000 Menschen betroffen waren? Mit der jeder Fünfte bei uns zumindest einmal in seinem Leben zu kämpfen hat? Oder sie einfach nur hinnimmt? »Wer selbst davon betroffen ist, bei dem fehlen Kompass und Landkarte für sein Leben. Denn wenn es mehr als nur Traurigkeit ist, dann ist es eine Depression.« Damit leitet Viola Becker im THM-Campus-Bau in der Südanlage als Moderatorin eine Veranstaltung, in der Hilfestellen bei Depression vorgestellt werden. Organisiert wurde sie von der Kooperation des Bündnisses gegen Depression in Gießen und der Fachschaft Architektur & Bauwesen der THM.

»Eine Depression führt leicht in die Alkoholsucht. Wenn die sich verfestigt, kriege ich die Depression nicht mehr weg.« Dabei sei sie eigentlich gut behandelbar. Man müsse sie halt angehen. Doch wie geht das am besten? Wo kann ich mich hinwenden? Und wie schnell kann ich Hilfe erlangen? Über all diese Fragen referierte ein Expertenteam. Für viele sei es schwierig, in ein Hilfesystem hineinzukommen, erzählt Horst Mathiowetz, Geschäftsführer des Fördervereins für seelische Gesundheit in Gießen. »Viele Schwer-Depressive empfinden, in einem düsteren Keller zu sitzen.«

Post werde nicht geöffnet. Wohnungsverlust drohe. Formulare auszufüllen, fühlten sie sich nicht in der Lage. »Diese Menschen brauchen niederschwellige Kontaktstellen.« Wichtig für sie sei als Anlaufstelle eine reine Beratungsstelle wie in der Frankfurter Straße 44. Oder der Kontakt mit dem Hausarzt. Sein Förderverein leistet Assistenz bei der sozialen Teilhabe, vermittelt Wohnheime mit betreutem Wohnen und hilft dabei, wieder in einer eigenen Wohnung leben zu können. Der Integrationsdienst betreue bei der Arbeit, bei Arbeitsverlust und der Vermittlung in neue Arbeit. Auch Arbeitgeber würden beraten. Weniger Freude, weniger Energie und deprimierte Stimmung erzeugten als Symptome der Depression Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle, Suizidgedanken, Schlafstörung, reduzierter Selbstwert und keine emotionale Reaktionsfreude mehr.

Hannah Al-Khanak und ihre Kollegin Laura Findt arbeiten beim sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes und beraten im Wartweg mit zeitnahen Terminen. Al-Khanak erwähnt auch den Grund ihrer zusätzlichen aufsuchenden Beratung: »Da viele nicht aus ihrem ›Kerker‹ herauskommen können.« Manche hätten »Wochen, Monate, gar Jahre« ihre Wohnung nicht verlassen. »Wir beraten und unterstützen, einen Therapieplatz zu finden und beraten auch das familiäre Umfeld.« Denn bei Depressionen seien auch nahestehende Personen durch die Auswirkungen des Krankheitsbildes betroffen.

Wohin am Wochenende, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt, die Gedanken kreisen, man sich allein fühlt? Als besondere Einrichtung weist Findt auf das Café Nachtlicht im Freiwilligenzentrum Walltorstraße/Eingang Asterweg hin. Hier könne man jeden Samstag zwischen 18 und 0 Uhr gemeinsam mit anderen eine »Nachtgesellschaft« haben und bei Bedarf Unterstützung bekommen.

Dr. Johannes Krautheim, Vorsitzender des Bündnisses gegen Depression und Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Vitos-Klinik, berichtet ausführlich über stationäre, tagesklinische und aufsuchende Therapieangebote.

Wie einen ambulanten Therapieplatz bekommen? Die Moderatorin präsentiert dazu das Referat der verhinderten psychologischen Psychotherapeutin Ginea Hay. Der erste Schritt sei das Erstgespräch in einer psychotherapeutischen Praxis. Der Therapeut kläre dabei ab, ob eine psychische Erkrankung vorliegt und welche Therapie- und Unterstützungsangebote helfen könnten. »Mit dem Befund aus dem Erstgespräch kann man sich auf die Suche nach einem Therapieplatz begeben.« Doch wie für dieses Erstgespräch einen Termin bekommen? Dazu müsse man - zumeist sehr viele - psychotherapeutische Praxen in der Umgebung abtelefonieren. Eine andere Möglichkeit sei, die Terminservicestelle (TSS) der Kassenärztlichen Vereinigung anzurufen - Rufnummer 116 117. Diese müsse einen Termin innerhalb einer Vier-Wochen-Frist anbieten. Allerdings könne die offerierte Praxis auch weiter entfernt sein.

Eine »alte« Therapieform wurde von den Experten als sehr wirksam bezeichnet: »Laufen als eine Form von Ausdauersport.« Dazu offeriert Hannah Al-Khanak ab Mai einen wöchentlichen Lauftreff.

Foto: Schäfer

Nützliche Portale: www.arztsuchehessen.de und www.ptk-hessen.de/fur-patienten-und-ratsuchende/psychotherapeutensuche.

Weitere Infos: www.wege-zur-psychotherapie.org.

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Depression ist mehr als Traurigkeit. In Gießen gibt es viele niedrigschwellige Hilfsangebote. Symbolfoto: Paul Zinken/dpa © Red

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