Wenn die Fassade bröckelt

Bereits zum zehnten Mal bewegen sich diesen Sommer hunderte Menschen mit und ohne Depressionserfahrung im Rahmen der »MUT-Tour« durch Deutschland.
Gießen . Eine sehr lange Zeit keine Freude an seinem Leben hat der 45-jährige Thomas Müller aus Freiburg gehabt. »Ich habe schon funktioniert«, erzählt er, als er mit seinem Tandem-Team auf der »MUT-Tour« am Kugelbrunnen einen Zwischenstopp eingelegt hat. »Die Fassade nach außen aufrechterhalten, geliefert, was im Job, in der Familie mit Frau und Kind sowie im Umfeld erwartet wurde. Doch ich habe kein Leben im eigentlichen Sinne gelebt.«
Zehn Jahre seines Daseins habe er so verloren, beklagt er. Als Engpass sieht Müller die ärztliche Versorgung. Lange hat er nach einem Therapeuten gesucht. Seit vier Jahren ist er nun in Therapie. Hat sich was verändert? »Ja.« Was verbessert? »Mal gute Phasen, mal schlechte.« Wie es ohne Behandlung wäre, vermag er nicht beurteilen. So offen ist er nun doch. Was helfen könnte? »Ganz normal in allen Bereichen darüber reden zu können. So wie man das tut, wenn man ein körperliches Leiden, beispielsweise Hüftbeschwerden hat.« Über seine Erkrankung wisse er jetzt zwar »alles«. Doch verstecke er sie weiterhin an der Arbeit. Aus Angst vor Stigmatisierung. Für ihn also weiterhin eine »verheimlichte« Krankheit.
Elias Schwarcz ist 32 und wohnt in Leverkusen. 2019 hatte er vergeblich nach einer Praktikantenstelle gesucht. Mit dem Gedanken »ich finde eh nichts« zog er sich von der Außenwelt zurück. Sein Bekanntenkreis hatte sich daraufhin Sorgen um ihn gemacht und gesagt: »Du kannst mit uns reden.« Doch er ist überzeugt, man brauche eher jemand außerhalb seines engen Kontaktkreises, professionelle Hilfe. Seit über einem Jahr geht er nun zum Psychotherapeuten. Weiß, dass sein Gemütszustand eine Krankheit namens Depression ist. Zu arbeiten ist ihm wieder möglich. »Mein Chef weiß nichts davon. Auch kommuniziere ich ansonsten meine Erkrankung nicht nach draußen.«
Aufklärungsarbeit
4300 Kilometer für die mentale Gesundheit mit Aufklärungsarbeit unter freiem Himmel. Bereits zum zehnten Mal bewegen sich diesen Sommer hunderte Menschen mit und ohne Depressionserfahrung im Rahmen der »MUT-Tour« durch Deutschland, um ein Zeichen zu setzen für mehr Offenheit, Wissen und Mut im Umgang mit Depressionen.
Insgesamt drei Monate sind die Teams wieder zu Fuß in Pferdebegleitung sowie auf Tandems unterwegs. In all den Jahren konnte die »MUT-Tour« jeden Sommer erleben, wie sich durch offene Gespräche Berührungsängste und Vorurteile stetig abbauen lassen. Auch erfahren die Teilnehmer ein Gemeinschaftsgefühl, welches sie auch im Alltag nachhaltig unterstützt. Und das weit über die Dauer der Etappenphasen hinaus. Um das zehnjährige Jubiläum zu begehen, möchte die »MUT-Tour« die Auseinandersetzung mit der Perspektive »Angehöriger von Menschen mit psychischen Erkrankungen« fördern. In den täglichen Interviews mit den Medien entlang der Strecke sowie den Gesprächen am Wegesrand berichten die Teilnehmer von ihren Erfahrungen und suchen den offenen Austausch über die Bedürfnisse von Betroffenen und Angehörigen.
Gegründet hat Sebastian Burger die »MUT-Tour« 2012 nach Erfahrungen mit anderen Tandem-Mitmach-Projekten. Dabei sei es um die Partizipation (gesellschaftliche Teilhabe) von blinden und gehörlosen Menschen gegangen. Was heißt eigentlich »MUT«? »Der Name ist Programm. Mutige Teilnehmer möchten anderen Mut machen, Hilfe anzunehmen und in den Dialog zu treten.« Was bedeuten die gesichtsbedeckenden großen Smileys? »Damit wollen wir alle Betroffenen repräsentieren, die es sich nicht erlauben können, ihre Depression öffentlich zu machen.« Berufliche Benachteiligung, Mobbing am Arbeitsplatz, Stigmatisierung in der Gesellschaft drohten ihnen nach einem Outing.
Caritas, Frankfurter Straße 44, 0641/79489, www.caritas-giessen.de/hilfen-und-beratung
Verein Angehörigengruppe Mittelhessen, Klinikstraße 36, 0151/54877805 (Bei AB-Nachricht wird zurückgerufen), kontakt@angehoerige-mittelhessen.de, www.angehoerige-mittelhessen.de
Arbeitsgemeinschaft der Hessischen Selbsthilfe-Kontaktstellen, Friedrichstraße 33, 0641/98545612, www.selbsthilfekontaktstelle-giessen.de
Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAG SHG), Friedrichstraße 28, 0641/98545612, info@selbsthilfekontaktstelle-giessen.de, www.selbsthilfekontaktstelle-giessen.de
Gesundheitsamt Landkreis Gießen, 0641/93901401, www.lkgi.de