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Wenn Pornografie krank macht

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Von: Frank-Oliver Docter

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Wer die Kontrolle über seinen Porno-Konsum verliert, kann ernsthaft psychisch erkranken. Symbolfoto: Marcus Brandt/dpa © Red

Psychologen der JLU Gießen erforschen eine Nutzungsstörung im Kontext übermäßigen Pornokonsums. Damit soll auch die Therapie verbessert werden. Teilnehmer für die Studie können sich melden.

Gießen . Früher wurden sie nur versteckt unter der Ladentheke gehandelt und heimlich darüber getuschelt. Heutzutage weiß nahezu jeder Heranwachsende, dass Pornos zu Unmengen im weltweiten Internet zu finden sind - und das häufig auch noch kostenlos. Tatsächlich sind die einst eher als »Schmuddelfilmchen« bezeichneten Videos inzwischen »in der Mitte der Gesellschaft angekommen«, sagt Prof. Rudolf Stark im Gespräch mit dem Anzeiger. Laut einer Umfrage, ob sie sich in den letzten Wochen zumindest einen Porno angesehen haben, hätten 80 Prozent der Männer mit »Ja« geantwortet. Bei einer anderen Studie unter Jugendlichen bis 18 Jahren hätten 25 Prozent der Jungs gemeint, dass sie dies sogar täglich tun würden. Und auch Frauen sind mit einem Viertel der Nutzer nicht gerade selten. Doch eines ist gleichgeblieben: Pornografie ist auch heute noch ein Thema, über das üblicherweise nicht offen gesprochen wird, es haftet ihm weiterhin ein Tabu an.

Der Direktor des »Bender Institute for Neuroimaging« (BION), das dem Fachbereich Psychologie und Sportwissenschaft der Justus-Liebig-Universität (JLU) angegliedert ist und sich insbesondere neurowissenschaftlichen Forschungsprojekten widmet, hat mit seinem Team eine große Studie zur Pornografie-Nutzungsstörung laufen. Dafür werden Betroffene als Teilnehmer gesucht.

Die Wissenschaftler wollen vor allem die Kenntnislücken über die Entstehungsbedingungen und die wirkungsvolle Behandlung dieser Störung schließen. Denn bis vor drei Jahren sei die Pornografie-Nutzungsstörung »gar nicht offiziell als Krankheit anerkannt« gewesen, berichtet der Inhaber der JLU-Professur für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften. Erst mit der jüngsten Überarbeitung der »International Classification of Diseases« (ICD), der weltweit gültigen Krankheitsklassifikation, wurde die Diagnose »Störung mit zwanghaftem Sexualverhalten« neu eingeführt. Für die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Gießener Studie »werden Menschen gesucht, die das Gefühl haben, die Kontrolle über ihren Pornografie-Konsum verloren zu haben«, beschreibt Stark das Profil. Ein solcher Kontrollverlust zeige sich insbesondere daran, dass »Menschen weiter Pornos konsumieren, obwohl sie wissen, dass damit in Partnerschaft oder Beruf massive negative Konsequenzen verbunden sein können«.

Als Fallbeispiele nennt er einerseits einen Mann, der sich an seinem Arbeitsplatz mehrfach am Tag auf die Toilette zurückgezogen habe, um seine Sucht zu befriedigen, was dann irgendwann aufflog und zur fristlosen Kündigung führte. Ein anderer Mann habe seine gesamte Wohnung mit Großbildschirmen zugestellt, um ständig gleich mehrere Pornovideos gleichzeitig in jedem Raum parat zu haben. Aber auch ohne einen solchen Aufwand drohe laut dem Institutsleiter die Gefahr durch das Smartphone, »das wir alle ständig dabei haben« und das ebenfalls mit wenigen Klicks erlaubt, ein Filmchen aufs Display zu holen.

Die psychischen Folgen können gravierend sein. So etwa, wenn sich jemand durch seine Pornosucht allmählich in seine eigene Welt zurückzieht und soziale Kontakte immer häufiger meidet. Der Leidensdruck steigere sich noch durch die Angst, der Lebenspartner dürfe davon nichts erfahren, weil sonst die Beziehung womöglich auf dem Spiel steht. Das wiederum könne auch sexuelle Dysfunktionen zur Folge haben, führt Stark aus. Und je mehr das Problem zunimmt, umso schwerer falle es auch, »sich im Alltag dem Suchtdruck zu entziehen«.

Bei den Experimenten im Rahmen der Grundlagenforschung zur Pornografie-Nutzungsstörung bekommen die Probanden in einem Magnetresonanztomographen (MRT) liegend verschiedene kurze Videos mit sexuellem Inhalt gezeigt. Mit Hilfe der sogenannten »funktionellen Kernspintomographie« ist es möglich, die neuronalen Reaktionen des Gehirns auf diese Reize zu messen. Der erste Termin dauert inklusive Pausen mehrere Stunden, der zweite einige Wochen später ist deutlich kürzer. Zu Beginn des ersten Termins wird die Studie ausführlich erklärt und es findet ein vorbereitendes Gespräch statt, bei dem unter anderem der Verlauf der Krankheitsgeschichte abgefragt wird. Für den zeitliche Aufwand für die Studienteilnahme gibt es eine Aufwandsentschädigung. Sollte sich herausstellen, dass jemand behandlungsbedürftig ist und eine Therapie benötigt, helfen die Studienorganisatoren, die entsprechenden Kontakte zu knüpfen.

Neben der aktuellen Grundlagenstudie soll zum selben Krankheitsbild im Januar auch eine Behandlungsstudie in der Verhaltenstherapeutischen Ambulanz der JLU starten, für die ebenfalls Betroffene gesucht werden. Hierbei gehe es um »eine innovative Therapie«, die sich aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzt. Sie alle hätten sich in der Vergangenheit jeweils als wirksam erwiesen, »sind aber bisher noch nicht in dieser Kombination eingesetzt worden«. Durch diesen neuen Ansatz versprechen sich Stark und sein Team, »die Erfolgsrate bei der Behandlung der Pornografie-Nutzungsstörung weiter steigern zu können«. Die Kosten für diese Therapie werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, sofern eine Symptomatik mit Störungswert vorliegt.

Nicht die Realität

Am Institut beschäftigen sich die Wissenschaftler nun schon seit etwa 15 Jahren mit Pornosucht, die bei etwa drei Prozent der Bevölkerung auftritt. »Wir sind aber eher durch Zufall dazu gekommen«, erinnert sich Rudolf Stark. Bei Untersuchungen im Rahmen der Angst- und Ekelforschung sei man damals »überrascht« gewesen, dass bei Betroffenen beim Anschauen von Bildern mit sexuellem Inhalt im Gehirn noch stärker auf einen solchen Reiz reagiert wurde als bei anderen positiven Bildinhalten. Natürlich habe es aber auch Probanden gegeben, die davon angewidert waren. Beim Blick in die Literatur zeigte sich, wie wenig bis dahin über all diese Zusammenhänge bekannt war. Und so wurden dann die ersten Forschungsprojekte zu dieser Thematik initiiert.

Dass der Pornokonsum in den vergangenen Jahren auch unter Minderjährigen zugenommen hat, wird von den Wissenschaftlern sehr kritisch gesehen. Denn hier bestehe immer die Gefahr, dass »die Porno-Realität mit der Wirklichkeit verwechselt wird«, sagt Stark. So wird das Bild vermittelt, dass die Frau immer eine willige Sexpartnerin sei und der Mann immer könne und wolle. Und dass Liebe dabei eher eine unwichtige Rolle spielt. Auf die sexuelle Entwicklung könne das negative Folgen haben, bis dahin, selbst im jungen Lebensalter eine Pornographie-Nutzungsstörung zu erleiden. Daher sei sich die Wissenschaft darüber einig, »dass Minderjährige davor geschützt werden müssen, mit Pornografie konfrontiert zu werden«, erläutert der Psychologe. Seiner Ansicht nach reicht es dabei nicht aus, dass einzig die leicht zu umgehende Altersbeschränkung »ab 18 Jahren« auf Computer oder Smartphone bestätigt werden muss, sofern das im Internet überhaupt verlangt wird.

Wer bei sich selbst einen überhöhten Pornokonsum festgestellt hat und glaubt, unter einem Kontrollverlust zu leiden, zwischen 18 und 50 Jahren alt ist, kann sich bei den Studienorganisatoren per E-Mail an pornstudies@psychol.uni-giessen.de melden. Außer der Telefonnummer mit der Bitte um Rückruf sollen darin aus datenschutzrechtlichen Gründen keine weiteren persönlichen Daten hinterlassen werden. Alle Anfragen werden vertraulich behandelt.

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Rudolf Stark Foto: privat © privat

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