Wenn verdrängte Bilder hochkommen

Eine Studie zur erfolgreicheren Behandlung von Traumafolgestörungen am Gießener Uniklinikum wird mit fünf Millionen Euro gefördert. Hierzu vergleicht man die Wirksamkeit zweier Therapieformen.
Gießen . Sie haben in ihrer Kindheit oder Jugendzeit sexuellen Missbrauch, körperliche Gewalt etwa durch Schläge des Vaters oder emotionale Vernachlässigung im Elternhaus erfahren. Irgendwann lernten sie, mit diesen Erinnerungen zu leben. Plötzlich aber entwickelt sich daraus im Erwachsenenalter eine schwere Depression oder Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die in Alltag, Partnerschaft oder Beruf für große Probleme sorgt.
Für Betroffene stehen zwar psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, doch können mit den bisherigen Methoden Patienten »nicht ausreichend gut behandelt werden«, verdeutlichen Prof. Johannes Kruse und Prof. Falk Leichsenring von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Gießener Universitätsklinikums (UKGM). Die Erfolgsrate liegt gar nur bei rund 20 Prozent.
Vertrauen aufbauen
Deshalb hat man an der Klinik die in solchen Fällen in der Praxis bewährtesten Therapieformen spezifischer auf die Bedürfnisse der leidenden Menschen zugeschnitten. Dabei handelt es sich um die jeweils Trauma-fokussierte kognitive Verhaltenstherapie und die psychodynamische Therapie. Um herauszufinden, welche von beiden eine größere Wirksamkeit verspricht und von welcher der individuelle Patient mehr profitiert, läuft an fünf Zentren eine Studie, bei denen die Gießener Klinik die Federführung hat. Beteiligt sind ebenso Behandlungszentren in Berlin, Dresden, Mainz und Ulm.
Zu beiden Formen untersucht werden in Gießen auch Veränderungen der Hirnfunktionen im Magnetresonanztomographen (MRT) an der Professur für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften (Prof. Rudolf Stark) sowie Auswirkungen auf das Immunsystem, was im Labor für Psychoneuroimmunologie von Prof. Eva Peters geschieht.
Wie Klinikdirektor Kruse und Studienleiter Leichsenring weiter ausführen, nehmen 347 Betroffene teil. Diese werden zu Beginn jeweils einer der beiden Therapieformen zugelost und innerhalb eines halben Jahres in 24 Therapiesitzungen von eigens hierfür geschulten Psychotherapeuten behandelt. Die Teilnahme an den MRT- und Immunsystem-Untersuchungen läuft auf freiwilliger Basis. Zudem gibt es zum Vergleich noch eine dritte Gruppe, die während der genauso langen Wartezeit nicht therapiert, jedoch regelmäßig telefonisch zu ihrem Wohlbefinden befragt wird. Danach dürfen diese Personen wählen, welche der beiden Therapieformen sie in Anspruch nehmen wollen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt für die seit 2019 und wegen Pandemie-bedingter Verzögerungen bis Ende 2024 laufende Studie insgesamt fünf Millionen Euro zur Verfügung.
Sexuelle Missbrauchserfahrungen in jungen Lebensjahren weisen sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung auf, berichtet Kruse. Etwa genauso groß sei die Gruppe derjenigen, die in jener Zeit körperliche Gewalt oder eine emotionale Vernachlässigung erfahren. »Was wir als Kinder erlebt haben, prägt auch die Entwicklung unserer inneren Beziehungswelt«, macht er das Ausmaß der Spätfolgen deutlich. Betroffenen falle es oftmals schwer, vertrauensvolle Beziehungen, und das auch zu ihrem Therapeuten, aufzubauen. Häufig bringen sie ihrer Umwelt »tiefstes Misstrauen« entgegen und leiden unter »sehr starken Selbstwertprob-lemen«. Selbst, eigene Bedürfnisse zu formulieren, falle ihnen oft schwer. Bei den Erkrankungen und Symptomen zeige sich »ein buntes Bild«, das von Angststörung und Depression bis hin zu Schlafstörungen und Alpträumen reicht, bei denen »verdrängte Bilder wieder hochkommen«, erklärt der Klinikdirektor.
Bevor die Psychotherapeuten eine der weiterentwickelten Therapieformen an Patienten anwenden dürfen, werden sie »speziell geschult«, erläutert Leichsenring. Dem folgt dann »eine Probetherapie. Erst, wenn diese gut gelaufen ist, dürfen sie Patienten behandeln«, so Leichsenring. Allein in Gießen werden auf diese Weise für jeden der beiden Therpiearme etwas mehr als zehn zusätzliche Experten ausgebildet. Die Erfahrungen bei den Sitzungen werden auch im weiteren Studienverlauf vom Therapeuten regelmäßig mit einem Supervisor, der ebenfalls aus diesem Fachgebiet stammt, besprochen.
Die über allem stehende Frage, auf die man sich klarere Antworten erhofft, lautet jedoch: »Für welchen Patienten ist welche Therapie die bessere?«, so Kruse. Hierbei spielt eine wichtige Rolle, ob zwischen Therapeut und Patient ein Vertrauensverhältnis entstanden ist. Langjährige Erfahrungen belegen, dass das häufig nicht oder nur unzureichend der Fall ist. Was sich wiederum auf Effektivität und Erfolg der Behandlung auswirkt. Sollten sich schon während des Verlaufs der Studie Erkenntnisse ergeben, die ein Nutzen für Betroffene zeigen, werden diese in die tagesklinische und stationäre Arbeit der Klinik übernommen. »Die intensive Vernetzung von Forschung und klinischer Tätigkeit zahlt sich hier zum Wohle des Patienten aus«, betont Kruse.
Der größte Teil der Studienteilnehmer sind Frauen, von denen die Mehrheit sexuelle Missbrauchserfahrungen in Kindheit und Jugendzeit verarbeiten muss, berichtet Fatima Nöske. Bei Männern würden Erfahrungen mit körperlicher Gewalt, der sie in diesem Lebensalter ausgesetzt waren, überwiegen, schildert die Psychologin, die für die Zuteilung der Teilnehmer auf die Therapieformen zuständig ist. »Viele haben Probleme mit Intimität in der Partnerschaft. Es fällt ihnen schwer, sich dem Partner emotional zu öffnen«, nennt Nöske eine typische Situation im Alltagsleben der Hilfesuchenden.
