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Wer mordete »Miss Marple’s«?

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Von: Ingo Berghöfer

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Noch können Krimifreunde bei »Miss Marple’s« stöbern, doch am 4. Mai beginnt in dem kleinen Buchladen in der Bahnhofsstraße der Räumungsverkauf. Foto: Berghöfer © Berghöfer

Mit der kleinen Krimi-Buchhandlung stirbt wieder ein ganz besonderes Stück der Innenstadt.

Gießen . Es gibt einen Ort in dieser Stadt, an dem regiert das Verbrechen - und das auch noch von der Polizei völlig unbehelligt. Wer zählt die Morde, wer die Totschläge, Entführungen und Erpressungen, die in dem kleinen Buchladen in der Bahnhofstraße 43 - gut getarnt zwischen unzähligen Buchseiten - stattfinden? Doch damit ist nun Schluss. Mit »Miss Marple’s« schließt wieder einer der letzten kleinen, von ihren Inhabern mit wenig Kapital, aber umso mehr Hingabe geführten Geschäfte.

2007 hatte Birgit Hohmann die damals ziemlich geniale Idee, einen Buchladen zu gründen, der vorzugsweise Kriminalromane anbietet. Die Branche boomte, und das Publikum gierte nach neuem Lesestoff, denn nach der Verhaftung ist vor dem Mord und der nächste Fall ist immer der schwerste.

Inzwischen sei das Genre am eigenen Erfolg erstickt, bilanziert Hohmann. Lokalkrimis aus allen beliebten Reiseländern überschwemmen den Markt, und im Fernsehen wird längst rund um die Uhr gemordet und gemeuchelt.

Wenig kann sie auch mit dem Trend zum Zweit- oder Zwanzig-Mord anfangen. All diese Serienmörder, bei denen die Autoren mehr Zeit für das Erfinden immer abstruserer Gemetzel aufwenden, statt für das Konstruieren eines raffinierten Plots, sind nicht das ihre. Und das sagt sie auch ganz offen, denn Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit seien nun mal das höchste Kapital im Buchhandel.

»Man darf keinen Blödsinn erzählen«

»Man darf den Kunden keinen Blödsinn erzählen und man darf nicht über Bücher reden, die man selbst gar nicht gelesen hat«, lautet Hohmanns Credo. Nur wenn man auf die Frage »Sie haben mir das vor einem Jahr empfohlen, haben Sie noch etwas in der Art?« eine zufriedenstellende Antwort geben kann, werden aus Laufkunden Stammkunden. Zum Beispiel jener ältere Herr, der noch gar nicht so recht fassen kann, dass »sein« Buchladen bald nicht mehr da sein wird. »Das ist einfach sehr schade. Das muss ich erst einmal verdauen.«

Dass bei »Miss Marple’s« alles durchdacht und aus einem Guss ist, merkt man schon beim Betreten des kleinen Geschäfts. Empfangen wird man vom unverwechselbaren Glockenschlag des »Big Ben«. Regale, Türverkleidungen, Stühle sind altenglisch lackiert und verströmen eine nostalgische und very britische Atmosphäre, wie die Namenspatronin, die schrullige Amateurdetektivin aus der Feder Agatha Christies, die Mörder zur Strecke bringt und die ihr stets einen Schritt hinterher hinkende Polizei zur Verzweiflung treibt.

»Es gibt hier wenige Dinge im Laden, über die ich mir keine Gedanken gemacht habe«, meint Hohmann, die vor einer Wand sitzt, an der Plakate von Hannelore Hoger, Eva Mattes, Nicole Heesters oder Nina Petri prangen - alle signiert und Erinnerungen an Lesungen, die Hohmann organisiert hat.

Warum aber streicht Miss Marple nun die Segel? Beginnen wir mit den Ermittlungen und verhaften erst einmal die üblichen Verdächtigen. »Ja, Corona hat auch für mich große Einbußen gebracht«, sagt die Buchhändlerin, die in dieser Zeit ihr Online-Angebot ausgebaut hat. Aber eine Homepage ersetze nun einmal nicht das Kundengespräch, klagt sie.

Richtig weh getan hätten ihr die drastisch gestiegenen Energiepreise. Im Winter habe sie den Laden wochenlang geschlossen, um Heizkosten zu sparen, »ansonsten hätte ich draufgezahlt«. Auch die Lage im Schatten der großen Einkaufstraßen sei nicht optimal gewesen. »Es gibt noch immer Leute, die hereinkommen und fragen: ›Ist der Laden neu?›«

Last but not least habe sich aber auch das Kaufverhalten total geändert. »Die Leute kaufen nicht mehr so viele Bücher«, sagt Hohmann, »Sie haben auch weniger Zeit zum Lesen und verbringen mehr Zeit mit dem Smartphone oder Netflix.« Die Zeit des Buches gehe zu Ende, vermutet sie - und das klingt bei ihr eher nüchtern als resigniert. »Es gibt auch keinen Nachwuchs mehr in der mit mir älter gewordenen Leserschaft«, auch wenn eine Kundin, die mit ihrem etwas gelangweilt wirkenden Sohn die Regale durchstöbert, sich alle Mühe gibt, das zu ändern. Den Filius habe sie erfolgreich für den Klassiker »Wen die Nachtigall stört« begeistern können - wenn auch als Comic.

Hohmann hat damit keine Probleme: »Hauptsache, es wird überhaupt gelesen.« Bildungsbürgerlicher Dünkel schade da nur. Dem entsprechend unsinnig findet sie es, dass Verlage Krimis immer noch viel zu oft erst einmal als gebundenes Buch herausbringen. »Das sind Bücher, die man in der Regel nur einmal liest. Die Preise aber steigen inflationär. Gebundene Bücher gehen in Richtung 30 Euro, selbst Taschenbücher kosten schon mal 15 Euro. Gleichzeitig haben die Leute immer weniger in der Tasche.«

Hohmann bilanziert das sachlich und ohne eine ihr anzumerkende Wehmut. »Man muss früh genug den Schlussstrich ziehen, bevor es in die falsche Richtung geht. Ich hatte hier 15 schöne Jahre, habe viele Leute kennengelernt, von denen etliche Freunde geworden sind, und ich habe viel für mich selbst aus dieser Zeit ziehen können.«

Und nie geht man ja so ganz. Birgit Hohmann würde auch nach dem Ende von »Miss Marple’s« gerne ihre beliebte Lesungsreihe »Crimetime« fortsetzen, auch wenn es immer schwieriger werde, geeignete Veranstaltungsorte zu finden. »Ich hoffe da auf ein Wiedersehen mit vielen alten Kunden und Freunden«.

Zunächst aber muss sie das Kapitel »Buchhändlerin« in ihrem Lebenslauf zu einem guten Abschluss bringen. Am 4. Mai startet der Räumungsverkauf, der bis zum 4. Juni zu den normalen Öffnungszeiten, donnerstags, freitags und samstags stattfindet. Freuen würde sich Birgit Hohmann auch, wenn sie einen Abnehmer für die handgearbeitete Inneneinrichtung finden würde. »Wenn die in der Schrottpresse endet, das würde mir schon schwerfallen.«

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