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»Wer’s verpasst hat, darf sich ruhig ärgern«

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Von: Benjamin Lemper

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Spektakel auf der Bühne im Waldstadion: Neben dem auf Plakaten beworbenen Weltstar Tina Turner kamen auch Joe Cocker, Franz Benton und die Rodgau Monotones zum Open-Air-Festival nach Gießen. Der Anzeiger berichtete davor und danach ausführlich in Wort, Bild und mit Karikaturen. Fotos: GA-Archiv © GA-Archiv

Am 26. Juli 1987 lieferte Tina Turner im Gießener Waldstadion eine »mitreißende Show« vor über 25 000 Besuchern ab. Allerdings gab es im Vorfeld und danach einige Misstöne.

Gießen. Und dann kam sie - in einem roten Leder-Mini fetzte sie los... So war es damals im Anzeiger zu lesen. Sie, das war Tina Turner, die nun verstorbene Rock-Ikone, die bei ihren Auftritten stets so unfassbar viel Energie versprüht hat. Auch beim Open-Air-Festival am 26. Juli 1987 im Gießener Waldstadion brachte die gebürtige US-Amerikanerin als absoluter Superstar an jenem Sonntagabend über 25 000 Besucherinnen und Besucher »außer Rand und Band«. Angefangen mit »What you get is what you see« servierte Turner »einen Hit nach dem anderen« und lieferte, »wie ein Derwisch« wirbelnd, eine »mitreißende Show«. Der Funke sei schnell übergesprungen. Doch es gab im Vorfeld und danach auch zahlreiche Misstöne, die hatten aber nichts mit dem Gesang der »großen Dame der Rockmusik« zu tun.

Während heute zum Glück wieder der »Gießener Kultursommer« alljährlich prominente Künstler aus der Musikbranche auf den Schiffenberg lockt, erwies sich von 1983 bis Anfang der 1990er die altehrwürdige Sportstätte an der Grünberger Straße mehrere Male als Bühne für spektakuläre Konzerte. Nena gastierte dort mit ihren »99 Luftballons«, ebenso Nina Hagen, Herbert Grönemeyer, Jethro Tull, BAP, Spliff, Ulla Meineke, Foreigner oder Roger Chapman & The Shortlist, um nur einige zu nennen. »Gießen mausert sich langsam hinter ›Rock am Ring‹ und der Loreley zu einem festen Bestandteil der deutschen Festivalszenerie«, urteilte seinerzeit der Anzeiger.

Programm »völlig umgekrempelt«

Nach einer mageren Resonanz mit lediglich 10 000 Zuschauern im Jahr 1986 drohte die erfolgreich begonnene Serie indes jäh unterbrochen zu werden. Doch dann wetteiferten plötzlich gleich zwei Veranstalter »mit Stars allererster Güte um den Zuschlag«, informierte der Anzeiger am 8. Mai 1987. Die eine Option des bisherigen Organisators Rainer Zosel wären Status Quo, Barclay James Harvest, Emerson, Lake + Palmer, Kansas, Aerosmith sowie The Georgia Satellites gewesen, alternativ wollte Michael Brenner von MB Productions aus Mannheim - als »noch größeren Coup« - Tina Turner an die Lahn holen. Mit Zosel befand sich die Stadt zu dieser Zeit aber noch in einem Rechtsstreit um die Stadionmiete aus dem Vorjahr - verbunden mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und Schadensersatzforderungen.

Forciert wurden also die »harten, aber fairen« Verhandlungen mit Brenner. Dabei ging es auch um die Eintrittspreise, trotz positiver Signale auf ein gelingendes Engagement ein »Knackpunkt« in den Gesprächen. Denn der damalige Bürgermeister Lothar Schüler hatte laut Anzeiger eine Höchstgrenze von 40 D-Mark angepeilt. Am Ende kostete die Karte 47 Mark. Auch wollte er die Kapazitätsgrenze von 28 000 Zuschauern möglichst nicht ausreizen, obwohl mit einem »ausverkauften Haus« zu rechnen war. Sponsoren sollten daher dafür sorgen, dass für den Veranstalter trotzdem ein Gewinn herausspringt.

Am 13. Mai konnte schließlich Vollzug gemeldet werden: »Weltstar Tina Turner wird am Sonntag, 5. Juli, Hauptattraktion beim 5. Gießener Open-Air-Festival sein.« Knapp zwei Stunden sind für ihr Programm geplant. Außerdem sollten die Fans noch Joe Cocker, John Farnham, Survivor und die Robert-Cray-Band zu sehen und zu hören bekommen. Pannen wie ein ausgefallenes Stromaggregat, so das Versprechen, seien diesmal nicht zu befürchten. »Das kann ich mir bei Tina Turner auch einfach nicht leisten«, versicherte Brenner.

Dennoch brauchte es zunächst noch ein wenig Geduld, weil der Termin um drei Wochen nach hinten verschoben werden musste. Zumindest für etwa 15 Musik-Begeisterte bedeutete das wiederum »lange Gesichter statt Tina Turner ›live‹«, berichtete der Anzeiger. Die hatten nämlich jeweils eine von jenen 500 Eintrittskarten erwischt, auf denen wohl noch das alte Datum aufgedruckt und nicht überstempelt war - und reisten entsprechend zu früh an, unter anderem aus Würzburg und Hannover. »Ausgerüstet mit einigen Kanistern mit erfrischenden Köstlichkeiten und einiger Wut im Bauch drehten sie ab.« Eine Gruppe aus Siegen, schilderte VfB-Wirt Toni, habe den Ausflug immerhin für einen Abstecher ins Schwimmbad genutzt. Ruhe kehrte weiterhin nicht ein. Denn kurz darauf wurde bekannt, dass die Fans auf drei »Bonbons« verzichten müssen - und zwar auf John Farnham, Survivor und die Robert-Cray-Band. Über die Gründe schwieg der Veranstalter und kündigte als Ersatz Hunter aus Australien, den Ex-Kraut-Rock-Pionier Franz Benton sowie die Rodgau Monotones an. Lothar Schüler zeigte sich ob dieser »Revolution« im »völlig umgekrempelten« Programm nicht erfreut.

Wenige Tage vor dem großen Spektakel unter freiem Himmel die nächste Hiobsbotschaft: Joe Cocker sei erkrankt. Schlimmer noch: Eine Meldung des ZDF legte sogar nahe, auch Tina Turner werde doch nicht in Gießen auftreten, da ihr Konzert auf dem Nürburgring das letzte ihrer »Break Every Rule«-Tour in Europa sei. Wie sich herausstellte, hatten die Damen und Herren in Mainz Gießen bloß nicht auf dem Schirm. Ihre Tournee endete deshalb wie geplant im Waldstadion, selbst Joe Cocker erholte sich rechtzeitig.

Ab 11 Uhr öffneten sich am 26. Juli die Pforten, die Stadtwerke Gießen richteten im 15-Minuten-Takt einen Pendelverkehr von den Parkhäusern am Anlagenring und vom Messeplatz an der Ringallee zum Waldstadion ein. Deutsches Rotes Kreuz, Feuerwehr und Polizei gewährleisteten, dass alles ordnungsgemäß, sicher und diszipliniert verlief. Zuvor hatte DRK-Geschäftsführer Willi Lind noch an die Besucher appelliert, »bei dem zu erwartenden heißen Wetter nicht mit übermäßigem Alkoholgenuss Kreislaufschwächen zu provozieren«. Abgesehen von einigen kleineren Erste-Hilfe-Maßnahmen und den üblichen Rangeleien im Gedränge mussten tatsächlich nur vier Personen mit dem Rettungswagen abtransportiert werden. Die Fans wollten eben »einfach nur gute Musik hören und nicht auf den Putz hauen«.

Langes Warten vor der Damentoilette

Erst heizten »Deplaat« Zeltinger, Franz Benton, die Rodgau Monotones und »Rockröhre« Joe Cocker dem Publikum ein, der Schluss- und Höhepunkt freilich war Tina Turner vorbehalten. Als sie kurz nach 22 Uhr »von der Bühne abtrat, waren alle Querelen [...] vergessen«. Die »First Rock-Lady« habe mit ihrer unvergleichbaren Performance selbst diejenigen »in euphorische Stimmung« versetzt, »die am Tage vorher noch am liebsten ihre Karten verkauft hätten, da die Hälfte der angekündigten ›Rockgiganten‹ durch ›Krankheit‹ - laut Veranstalter - nicht an diesem Festival teilnehmen konnten«, heißt es in einer Nachlese »für junge Leute« am 31. Juli im Anzeiger. Oder auch: »Gießen hat Tina Turner gesehen - ein Riesenkonzert. Wer’s verpasst hat, der darf sich ruhig ärgern.«

Ganz ohne »unangenehme Randerscheinungen« lief es dann aber doch nicht. Die Lokalredaktion erreichten jedenfalls Beschwerden und Hinweise, die unter der Überschrift »Schlechter Ton bei guter Musik« zusammengefasst wurden. Überrascht waren Besucher zum Beispiel von der Praxis, dass sämtliche Flaschen und Dosen - ob Haarspray oder Pepsi - bei der Kontrolle abgegeben werden mussten und in einen Container befördert wurden. Verdruss verursachten ferner die bis zu eineinhalbstündige Warterei vor der Damentoilette und der zögerliche Auslass, »der nicht einmal im Schritttempo« möglich war. Insbesondere aber scheint die Security-Crew, offenbar Kampfsportler aus Nürnberg mit »muskelbepackten Armen« sowie »fürchterlich drohenden Blicken und Gebärden«, nicht unbedingt zimperlich zur Sache gegangen zu sein. »Bitte« und »Danke« seien für sie Fremdworte gewesen. Stattdessen »schickten sie ihre Hunde los und zeigten mit den Fäusten, wo es langgeht«. Anzeigen und Gegenanzeigen waren die Konsequenz. Tina Turner bekam von all dem vermutlich gar nichts mit. »You feel alright!?« rief sie von der Bühne in die Menge. Und die prompte Antwort lautete: »Yeah!«

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TinaTurner_Karikatur_4sp_4c © Red
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TinaTurner_GA-Seite_2605_4c © Red
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