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Widersprüche und Korrekturen

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Gießen. Ganz am Ende eines sechsstündigen Prozesstages im Berufungsverfahren gegen die Baumbesetzerin »Ella« aus dem Dannenröder Wald verlor Staatsanwältin Mareen Fischer kurz die Contenance: »Wollen Sie mir vorwerfen, ich hätte Beweismaterial nicht ausgewertet?«, brach es aus ihr heraus in Richtung der Verteidigerin Waltraut Verleih, die zuvor gefragt hatte, warum das in Gießen gesichtete umfangreiche Polizeivideomaterial im ersten Verfahren kaum eine Rolle gespielt habe.

Für die Verteidigung war es bei der Vernehmung von vier SEK-Beamten - und Hauptbelastungszeugen - am Montag bis dahin ohnehin gut gelaufen.

Fischer hatte im ersten Verfahren eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten für »Ella« gefordert. Bei diesem hohen Strafmaß hatte vor allem die Gefährlichkeit der Tat eine Rolle gespielt. Aufgrund der Zeugenaussagen der Spezialkräfte, die »Ella« in 15 Metern Höhe nach einem minutenlangen Gerangel überwältigt hatten, habe die Gefahr bestanden, dass ein von ihr mit Tritten getroffener SEK-Beamter aus großer Höhe abstürze, was diesen in Todesangst versetzt habe, hieß es damals.

Nachdem die vier am Montag vernommenen SEK-ler - erneut allesamt als namenlose Nummern, vermummt und in Tarnkleidung auftretend - einräumten, die von Unterstützern »Ellas« mittlerweile auch auf Youtube veröffentlichten Polizeivideos der Festnahme gesehen zu haben, klangen ihre Aussagen in Gießen doch ein wenig anders als im Vorjahr in Alsfeld. Trotz der optischen Erinnerungsstützen fielen immer wieder Sätze wie »Ich weiß es nicht mehr ganz genau« oder: »Im Detail kann ich mich nicht erinnern«.

»Ich hatte Schiss, abzustürzen«

Zeuge K 214 räumte dann aber doch angesichts der im Gerichtssaal gezeigten Videosequenzen, mit denen Richter Johannes Nink hoffte seine »Erinnerung zu festigen« ein, dass er seine Aussage aus dem ersten Verfahren denn doch korrigieren müsse, da er sich offenbar doch während des Einsatzes gegen einen Absturz gesichert habe.

Gleichwohl beharrte der Zeuge darauf, dass er während des Gerangels mit der Aktivistin »Schiss hatte, abzustürzen« und sich gefragt habe: »Warum bin ich so blöd und breche das nicht ab?«

Als Nink fragte, warum nicht einer der auf den Videos zu sehenden Hubsteiger eingesetzt worden sei, um »Ella« auf den Boden zu bringen, räumte K 214 ein, dass das auch seine bevorzugte Lösung gewesen sei, aber »das entscheiden andere«.

Auf Ninks Nachfrage, warum er trotz der ihm vier Tage nach der Begegnung mit »Ella« von einem Arzt attestierten Tritte gegen die Schulter und die linke Gesichtshälfte am Tattag bei einer ersten Vernehmung angegeben habe, keine Schmerzen zu haben, meinte K 214, er habe erst im Laufe der nächsten Tage gemerkt, dass er »den Hals nicht mehr schmerzfrei drehen könne«. Dennoch sei er noch in den nächsten drei Tagen in Dannenrod auf Bäume geklettert und habe Leute aus Baumhäusern geholt?, fragte Nink weiter. »Vermutlich ja.«

Auch Zeuge K 432 räumte bei der zweiten Vernehmung in Gießen ein, dass er zu keiner Zeit Gefahr lief, abzustürzen. Auch habe »Ella« nicht nach ihm geschlagen, aber getreten - ohne indes zu treffen.

Und auch der dritte im Bunde, Zeuge D 111, der am 26. November 2020 Kollege K 432 zu Hilfe geeilt war, korrigierte seine Aussage aus dem Vorjahr. Zwar habe »Ella« ihm einmal mit dem Knie ins Gesicht gestoßen, doch habe er davon keine langfristigen Verletzungen davongetragen. Warum sei dann in einer ersten Vernehmung ein Hämatom auf seiner Wange protokolliert worden«, wollte Nink wissen: »Da habe ich mich wohl falsch ausgedrückt, oder bin falsch verstanden worden.«

Andere Aussagen der SEK-Beamten waren widersprüchlich. Der eine berichtete, nach dem Abseilen von »Ella« mit einem Hubsteiger vom Baum geholt worden zu sein, andere konnten sich nicht mehr daran erinnern, wussten aber, dass der Hubsteiger gar nicht unter den Baum hätte fahren können, weil Aktivisten dort Seile gespannt hatten.

Zwei Beamte betonten, ihre Code-Nummern schon zu Beginn des Einsatzes in Dannenrod erhalten zu haben, die anderen beharrten darauf, die Nummern erst im Zuge der Ermittlungen gegen »Ella« erhalten zu haben.

Dann sprach Nink D 111 auf den »Ella« per Lautsprecher angedrohten Taser-Einsatz an. Habe er an diesem Tag einen Taser mit sich geführt?

D 111: »Weiß ich nicht.«

Nink: »Zeuge K 432 hat gesagt, dass er keinen Taser bei sich hatte.«

D 111: »Na dann hab ich ihn wohl gehabt.«

Als der Richter von D 111 wissen wollte, ob er in dieser Höhe einen Taser auch dann einsetzen würde, wenn der Kontrahent nicht gesichert sei, bejahte der das, »wenn ich gefährdet bin« und fügte noch hinzu, »wenn ihn da oben einer mit einem Messer angreife, würde er auch zur Schusswaffe greifen«.

Die Aussage des letzten Zeugen an diesem Tag, Polizeibeamter D 333, hatte in Alsfeld keine große Rolle gespielt, angesichts der schwerwiegenderen Aussagen seiner Kollegen. In Gießen könnte das anders sein. Er beschrieb ohne größere Erinnerungslücken, wie er mit Kollegen in einem Hubsteiger zu dem Baumhaus unterwegs war, in dem sich damals »Ella« und ein Mitstreiter aufhielten. Dabei seien sie erst mit einer Flasche Öl und dann mit einer Flasche Urin beworfen worden.

Prozess biegt auf die Zielgerade

D 333 war und ist sich sicher, dass zumindest die Urinflasche von »Ella« geworfen wurde; er habe sie nach ihrer Festnahme anhand ihrer markanten Kleidung, einer schwarzen »Adidas«-Jacke wiedererkannt.

Mit dem nächsten Verhandlungstag endet voraussichtlich die Beweisaufnahme im zweiten Prozess gegen die nach wie vor ihre Identität nicht preisgebende Aktivistin. Anfang März biegt dann das Verfahren mit den ersten Plädoyers auf die Zielgerade.

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