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Wie Corona unser Zuhause verändert hat

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Von: Karsten Zipp

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Untersucht die Folgen der Corona-Pandemie: Prof. Andreas Langenohl. Foto: privat © privat

Der Soziologe Prof. Andreas Langenohl spricht über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesellschaft. Vor allem die Folgen für Jugendliche seien noch gar nicht absehbar.

Gießen. Corona scheint Geschichte. Die Pandemie ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Maskenpflicht und Versammlungsverbote gehören der Vergangenheit an. Aber welche Auswirkungen hat die Pandemie auf unsere Gesellschaft gehabt? Wie hat sie unsere Zusammenleben verändert? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Gießener Soziologe Prof. Andreas Langenohl. Zuletzt hat der in Lützellinden lebende Wissenschaftler einen Sammelband gemeinsam mit seiner Kollegin Kornelia Hahn mit dem Titel »Öffentliches Leben: Gesellschaftsdiagnose Covid-19« herausgegeben. Im Gespräch mit dem Anzeiger macht der 53-Jährige deutlich, dass die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie vor allem für Jugendliche noch nicht absehbar seien.

Sind Sie noch gerne zu Hause?

Letztes Wochenende war ich gleich zweimal im Café, und das ist eine Veränderung, weil man sich während Corona schon angewöhnt hat, zu Hause zu bleiben und das auch gut zu finden. Jetzt versuche ich, das nicht mehr so gut zu finden und wieder verstärkt unter Leute zu gehen.

Die Frage habe ich deshalb gestellt, weil Sie auch darüber schreiben, wie sich durch die Pandemie das Zuhause verändert hat. Vielleicht können Sie erklären, wie in soziologischer Sicht der Begriff des Zuhauses definiert ist?

In der Soziologie gibt es eine Geschichtsauffassung bezüglich der Entstehung der Idee des Zuhauses. Dieses steht seit dem späten 18. Jahrhundert im Gegensatz zum öffentlichen Leben. Dabei handelt es sich um eine bürgerliche Idee, die im Grunde besagt, dass es einen öffentlichen Raum gibt, in dem Politik und Berufsleben stattfinden, ein üblicherweise männlich besetzter Raum. Dem gegenüber steht das Zuhause: die Privatsphäre, für die traditionell die nichterwerbstätige Frau zuständig war. Auf dieser Grundlage haben sich verschiedene Rollenstrukturen etabliert, eben öffentliche Rollen und private Rollen.

Und diese haben sich in der Corona-Zeit verändert?

Während der Pandemie haben sich Öffentlichkeit und Privatheit sehr stark ineinander geschachtelt, weil öffentliche Rollen auch zu Hause wahrgenommen werden mussten. Man musste in die Videokonferenz, die Kinder mussten in den Online-Unterricht, man traf sich mit Freunden in Videochats. Darüber entbrannten Konflikte. Beispiel: Wer Kinder im Online-Unterricht betreuen muss, kann nicht gleichzeitig arbeiten. Insofern ist das Zuhause mit unterschiedlichsten Rollenanforderungen konfrontiert worden, die unter ein Dach gebracht werden mussten. Das hat sehr viele Konflikte ausgelöst, was wahrscheinlich auch einer der Gründe ist, warum das Zuhause während der Pandemie für viele Leute nicht so ein entspannter Ort war.

Wenn ich es richtig verstanden habe, sagen Sie auch, dass sich in dieser Zeit bestimmte öffentliche Foren in das Zuhause hineingedrängt haben. Wie kann man sich das vorstellen?

Öffentlichkeit ist ja keine einheitliche Sphäre. Es gibt unterschiedliche Sektoren. Zum Beispiel die Berufsöffentlichkeit, in der man anders auftritt als in der geselligen oder politischen Öffentlichkeit. Unter Nicht-Pandemie-Bedingungen sind diese Sektoren räumlich getrennt. Damit war es jetzt im Grunde vorbei. Diejenige Trennung, die zu Hause vielleicht noch funktionierte, war die zwischen dem Face-to-Face-Alltag und dem sozialen Medienalltag, weil soziale Medien, egal, wo man sich befindet, immer ihre eigene technologische Öffentlichkeit kreieren.

In dieser Zeit haben viele Vorschriften die Öffentlichkeit eingeschränkt. Wird das nur eine Randnotiz der Geschichte bleiben oder hat das vielleicht doch langfristige Folgen?

Das ist eine gute Frage. Ich habe nur Spekulationen dazu. Eine würde lauten, dass wir darauf schauen sollten, was mit Jugendlichen ist, die während der drei Pandemie-Jahre maßgebliche Sozialisationserfahrungen machten - also eben die ganze Zeit zuhause zu sein oder eine außerhäusliche Öffentlichkeit nur noch über »Social Media« vermittelt zu bekommen. Heute sieht man junge Leute, die sich am Tisch gegenüber sitzen, aber nicht direkt miteinander sprechen, sondern sich WhatsApp-Nachrichten schreiben. Diese noch weitergehende Durchdringung des Alltags durch digitale Kommunikationswege - das könnte eine maßgebliche Veränderung sein, die dem Digitalisierungsschub während der Pandemie geschuldet wäre.

Stichwort Digitalisierung - was steht uns in dieser Beziehung noch bevor? Ist das alles so positiv zu sehen, wie uns oft vermittelt wird?

Das beschäftigt mich sehr, in meinem eigenen Arbeitsalltag. Derzeit gibt es eine Diskussion über künstliche Intelligenzen, die selbstlernend Texte produzieren - und eben auch wissenschaftliche Texte. Das kann ein Problem für die Wissenschaft werden, weil wir zunehmend Schwierigkeiten haben werden, Autorenschaft festzumachen. Das ist ein anderes Problem als Plagiate, die seit langem diskutiert werden. Denn Plagiate sind Kopien, man kann die Originale, die Quellen, finden. Das ist hier anders, weil die Software individuelle Texte produziert. Insofern werden wir uns die Frage der Zuschreibung von Autorenschaft, Kreativität, Leistung und auch Verantwortung in der Wissenschaft neu stellen müssen.

Wird die Zunahme der Heimarbeit, die durch Corona kam, auch für Familien etwas ändern?

Ja, das denke ich schon. Es hängt aber davon ab, in welches soziale Milieu und an welchen Ort der Sozialstruktur man genau blickt. Es gibt viele Berufe im Bildungs- oder im Dienstleistungsbereich, in denen es ein großes und verständliches Interesse am Homeoffice gibt. Aber andererseits gibt es eben auch viele Menschen, die mit wenig Wohnraum leben. Dort gibt es das ebenso verständliche Interesse, diese Räume zu verlassen. Das Zuhause ist ja nicht immer ein nur positiv besetzter Ort, gerade für Jugendliche. Es ist ein Rückzugsort, den man periodisch aufsuchen kann, aber auch ein Ort, den man hinter sich lassen möchte, wenn er als Zwang empfunden wird. An diesen grundsätzlichen Unterschieden wird sich, glaube ich, durch Corona nichts ändern.

Wenn man weg geht von Familien hin zu den sogenannten Single-Haushalten, da hat die Soziologie jetzt den Begriff der »Monogamie auf Zeit« geprägt. Was bedeutet das?

Der Begriff stammt von Andrea Newerla. Sie hat einen Beitrag in unserem Sammelband zur »Öffentlichkeit während der Pandemie« geschrieben und setzt sich insbesondere mit Personen auseinander, die Partner-Suchdienste wie Tinder verwenden - Personen, die eigentlich, was ihre Partnerbeziehungen angeht, eher mobil sind. Die Kollegin hat dabei die interessante Beobachtung gemacht, dass in der Corona-Zeit dieselben Menschen zum Teil geneigt gewesen sind, erstmal, aber eben auch vorläufig, eine längerfristige Beziehung einzugehen, um die Einsamkeit oder die Angst davor zu überwinden. Ob das ein stabiler Trend ist, weiß ich nicht.

Es gab durchaus auch viel Kritik an den Corona-Maßnahmen. Eine für mich zutreffende lautete, dass in den Expertenrat auch Psychologen und Soziologen einbezogen hätten werden müssen.

Ich habe den Eindruck, es gibt in dieser Hinsicht eine zentrale politische Lücke. Sie besteht darin, dass es die demokratisch orientierten politischen Parteien und die politischen Institutionen nicht vermocht haben, sich vorzustellen, wie eine demokratische Öffentlichkeit unter pandemischen Bedingungen aussehen könnte. Wer hingegen eine klare Vorstellung von politischer Öffentlichkeit in der Pandemie hatte, waren antidemokratische Kräfte, etwa die Querdenker-Szene mit ihrer Nähe zu rechtsextremistischen Gruppierungen. Deren Demonstrationen waren sozusagen sichtbare Zeichen der Möglichkeit von politischer Öffentlichkeit unter pandemischen Bedingungen. Und es waren leider mehr oder minder die einzigen. Das ist, so denke ich, eine wichtige Lektion, die zu lernen wäre: Wie würde demokratische politische Öffentlichkeit unter pandemischen Bedingungen aussehen? Darauf gibt es bis jetzt keine Antwort, wenn ich das richtig sehe.

Mein fataler Eindruck war, dass es keine Form von linker Kritik geben konnte, weil jede Kritik von Corona-Maßnahmen sofort von rechts vereinnahmt wurde. Denn natürlich konnte man über viele Dinge diskutieren. Beispielsweise, ob eine Ausgangssperre in Dorf-Güll Sinn macht, wenn gleichzeitig in Frankfurt alle durch den Park laufen. Aber entweder war man dagegen und dann eben rechts oder dafür, und dann eben demokratisch.

Das hat sicherlich politische Effekte gehabt, die ich selbst auch nicht als wünschenswert bezeichnen würde. Aber es gibt durchaus eine Kritik, die sich auf das Zusammenwirken der Corona-Maßnahmen mit bestimmten sozialstrukturellen Lagen, mit bestimmten Benachteiligungen richtet. Hierzu hat es von Anfang an umfangreiche soziologische Forschungen gegeben. Es sind ja Alleinerziehende, die leiden, es sind die Menschen mit wenig Wohnraum, die leiden, es sind Menschen, die in schlecht bezahlten, kontaktintensiven Service-Berufen arbeiten. Das sind diejenigen, die besonders unter den Maßnahmen litten, weil sie entweder ihre ohnehin begrenzten Handlungsspielräume einschränkten oder sie besonderen Belastungen aussetzten. Diese Kritik hat es gegeben.

Sie würden auch sagen, diese prekären sozialen Bedingungen, muss der Staat jetzt dringend angehen?

Das wäre eine politische Konsequenz. Es ist auch genau die Forderung, die nach wie vor im Raum steht. Beispielsweise sind Pflegeberufe weiterhin nicht besser gestellt als vorher.

Es gab zu Beginn der Coronazeit - ich sage mal - Sonntagsreden, dass die Gesellschaft enger zusammenrücken muss. Davon ist nichts geblieben, oder?

Wahrscheinlich nicht. Vielleicht ist das eine weitere Gelegenheit, die nicht genutzt wurde. Es ist ja eine Pandemie gewesen, das ist per Definition eine weltweite Angelegenheit, in der viele verschiedene Menschen recht ähnliche oder vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Diese Möglichkeit, auch Empathie auszudrücken auf der Grundlage einer grundsätzlich vergleichbaren Erfahrung - das ist etwas, von dem ich den Eindruck habe, da hätte man mehr daraus machen können. Es als Erfahrung zu begreifen, dass wir in Abhängigkeit von anderen Menschen sind. Also eine gemeinsame Verletzlichkeit trotz sehr vieler Unterschiede.

Die Geisterspiele im Sport waren doch letztlich Brot und Spiele für Zuhause. War das eine gute Entscheidung?

Leben in der Gesellschaft bedeutet ja, dass man eine Vorstellung mit sich herumträgt, woraus diese Gesellschaft konkret besteht. Man sieht nun diese Öffentlichkeit im Sport, diese Zuschauer in den Stadien, und das vermittelt ein handgreiflich atmosphärisches Gefühl, Teil eines wesentlich größeren Zusammenhangs zu sein, der über das Stadion hinaus geht. Diese tausende Zuschauer repräsentieren eine größere an diesem Spiel interessierte Allgemeinheit, die dem Spiel erst seinen Sinn verleiht. Eine Öffentlichkeit letzten Endes.

Wenn man die Fußball-WM in Katar als Fortsetzung der Corona-Zeit sieht, bei der Geisterspiele vermieden wurden, in dem bezahlte Gastarbeiter ins Stadium gesetzt wurden. Hat der Sport als eine Fernsehveranstaltung keine Zuschauer mehr nötig?

Ich denke schon, dass es für ein Fernseh-Publikum einen Unterschied macht, ob man ein leeres oder ein volles Stadium sieht. Weil es zu dem Eindruck beiträgt, dass es sich um ein ereignisgesättigtes Geschehen von allgemeiner Bedeutsamkeit handelt, dem man Zeit widmen sollte.

Ist das, was wir hier führen, eine sehr deutsche Diskussion? Sie sind beruflich oft in Südafrika. Wie wird diese Diskussion über Corona dort geführt?

Es wird deutliche Kritik an der Corona-Politik der nördlichen Welthalbkugel geübt. Ein Beispiel: Viele der Maßnahmen, die in Europa und in Nordamerika teilweise sehr plötzlich verhängt wurden, wie Einreise-Stopps und Flugstreichungen, hatten gravierende Auswirkungen auf viele Länder des globalen Südens, die stark abhängig sind von infrastrukturellen Leistungen, wie sie beispielsweise von unseren Fluggesellschaften angeboten werden. In vielen Ländern des südlichen Afrikas werden diese infrastrukturellen Auswirkungen der Pandemie ebenso ernst genommen wie die medizinischen Auswirkungen, weil sie für die Gesellschaft vital sind.

Wurde dort auch wahrgenommen, dass Pharmaunternehmen sich geweigert haben, südafrikanische Unternehmen bei der Herstellung eines Impfstoffes zu unterstützen?

Ja, natürlich. Das wird im Rahmen einer generellen Kritik an der internationalen politischen Ökonomie gesehen, etwa der Art und Weise, wie medizinische Produkte hergestellt werden, für welche Märkte sie hergestellt werden und wo sie welche Verkaufspreise erzielen können. In der Hinsicht gab es viele kritische Stimmen aus dieser Region, die gesagt haben: Im Grunde genommen ist die Pandemie eine Fortschreibung einer uns lange bekannten, sehr ungleichen internationalen politischen Ökonomie, die jetzt aber auch noch zusätzliche Todesopfer fordert, weil der Impfstoff hier nicht zur Verfügung steht.

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