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Wie ein Fort im Feindesland

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Von: Ingo Berghöfer

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Gut gesichert: Auch der halbhohe Zaun unter dem Torbogen des Eingangs zur Jüdischen Gemeinde ist einem Stahltor gewichen. Foto: Lemper © Lemper

Besuch in der Gießener Synagoge: Wie kann Normalität gelingen, wenn Mauern immer höher werden?

Gießen . Es ist ein heißer Sommertag im Jahr 2018. In einem Hof im Burggraben hat sich ein gutes Dutzend Menschen versammelt, um gemeinsam eine jahrtausendealte Tradition zu pflegen. Das Laubhüttenfest ist vielleicht die fröhlichste Feier im jüdischen Jahreskalender. Die Menschen sitzen gemeinsam in einer einfachen Hütte, um so an die Entbehrungen der Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste, aber auch an die Freude über das Ende der ägyptischen Knechtschaft und die Heimkehr ins heilige Land der Väter zu erinnern.

Doch die Feier im Innenhof der Synagoge wird jäh unterbrochen. Ein bis heute unbekannter Mann ist über die Mauer geklettert, rüttelt an der Laubhütte und bringt diese über den Feiernden fast zum Einsturz. Sagen tut er nichts - und er verschwindet als erste panische Schreie laut werden genauso schnell, wie er gekommen ist.

Anschlag in Halle als Zäsur

Bis heute weiß Dow Aviv, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen, nicht, ob dieser Angriff einen antisemitischen Hintergrund hatte oder vielleicht nur der Schnapslaune eines alkoholisierten Zeitgenossen entsprang. Der Schrecken, den dieser zum Glück letztlich harmlose Vorfall in der kleinen Gemeinde hinterlassen hat, wirkt freilich bis heute nach. Und er wäre wohl noch größer gewesen, wenn dieser Vorfall sich nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle ereignet hätte und nicht ein Jahr davor.

Halle war eine Zäsur, auch für die Jüdische Gemeinde in Gießen. Der halbhohe Zaun unter dem Torbogen des Eingangs ist einem Stahltor gewichen. Dahinter befindet sich eine weitere Schleuse aus kugelsicherem Glas. Auch die Videoüberwachung wurde ausgebaut und die Zahl der Kameras in dem verwinkelten Areal am Burggraben erhöht. Bleibt die Mauer zum Nachbargebäude. Die ist für die Experten des Landeskriminalamtes Hessen ein Albtraum und soll deshalb ebenfalls höher werden.

In Sonntagsreden oder am 9. November freuen sich Politiker gerne über das Geschenk eines jüdischen Gemeindelebens, das es nach dem Holocaust wieder in diesem Land gibt. Aber was ist das für ein Leben, das sich wie in einem belagerten Fort in Feindesland abspielt?

»Seitdem ich in Deutschland bin, und das sind immerhin schon 45 Jahre, kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich mir nicht die Frage gestellt habe: Bin ich hier sicher?«, meint Dow Aviv. Die ersten 25 Jahre seines Lebens hat er in Israel verbracht. »Auch dort begleitete mich die Sicherheitsfrage, aber es war anders.« In Israel sei die Bedrohung greifbar, aber auch das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die einen trägt, sei dort stark.

In Deutschland aber ist alles diffuser, ungreifbarer: die Bedrohung, aber auch der Rückhalt in der Mehrheitsgesellschaft. »Gießen ist keine große Stadt und zu unserem Glück eine friedliche und freundliche Stadt«, sagt Aviv. Körperliche Angriffe, persönliche Beleidigungen oder Bedrohungen seien hier seit Jahren nicht vorgekommen.

Das bestätigt auch die Gießener Polizei. »Die Zahlen der antisemitischen Delikte im Landkreis und der Stadt Gießen liegen seit mehreren Jahren jeweils im niedrigen einstelligen Bereich«, berichtet Jörg Reinemer, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelhessen. Diese Zahl wird noch geringer, wenn man die sogenannten Propagandadelikte wie Hakenkreuzschmierereien abzieht, die von der Polizei nicht gesondert erfasst werden. Andererseits reicht eine tickende menschliche Zeitbombe, die, wie der Attentäter in Halle, ihren Hass im Kinderzimmer ausbrütet, um ein Massaker anzurichten, das in Halle wohl nur durch eine stabile Holztür verhindert worden ist.

Und dieser Hass ist noch da. Schon vor der Corona-Pandemie seien in der Gemeinde - aber auch privat bei Mitgliedern - anonyme Drohanrufe und Hetz-Mails eingegangen. Deren Inhalte reichen von antisemitischen Stereotypen wie »Die Weltwirtschaft wird nur von Juden gesteuert und beherrscht« bis hin zu offenen Drohungen wie »Wir sind noch nicht fertig«, »Viehwaggons sind für euch die 1. Klasse« oder »Bald ist Auschwitz überall«.

»Die Angst ist da«

Wie also umgehen mit der kaum greifbaren, aber realen Bedrohung und der eigenen Angst? »Die Angst ist da«, räumt Aviv ein. »Wir reden viel mit anderen jüdischen Gemeinden und das schaukelt sich auch ein wenig gegenseitig hoch. Die eigene Gemeinde, zu der überwiegend Menschen gehören, die aus einer Diktatur nach Deutschland gekommen sind, gehöre da zu den eher ängstlichen Gemeinschaften. Marburg dagegen habe lange gar keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen getroffen und großen Wert auf Offenheit gelegt. Das habe das Landeskriminalamt aber nach Halle nicht mehr akzeptiert.

Dabei hatte sich der Vorstand eigentlich auf die Fahne geschrieben, die Gemeinde mehr nach außen zu öffnen. Dann kam Hanau und dann das LKA. »Das macht alles sehr schwierig.«

Wie gehen die Gemeindemitglieder mit dem zur Normalität gewordenen Ausnahmezustand um? Fragen kann man sie an diesem Abend nicht, da zum vereinbarten Gespräch nur Dow Aviv und sein Vorstandskollege Lawrence de Donges-Amiss-Amiss erschienen sind. »Es hätte mich auch überrascht«, meint Letzterer. »Das Thema an sich macht Angst. Wir versuchen da zu beruhigen, stellen eigene Sicherheitskräfte bei Veranstaltungen und arbeiten eng mit der Polizei zusammen. Wir sind hier so gut geschützt, wie es nur geht.«

Bei aller Angst: Verstecken kommt für die meisten Gemeindemitglieder nicht infrage. Gerade in der Diaspora wird die Gemeinschaft umso wichtiger. Die Jüdische Gemeinde Gießen hat derzeit 270 Mitglieder. Die kommen aus einem Einzugsgebiet, das von Haiger im Westen bis Fulda im Osten und von Marburg im Norden bis Bad Nauheim im Süden reicht. »Angst war noch nie ein Hindernis, zu kommen«, ist de Donges-Amiss-Amiss überzeugt. »Beim Chanukka-Fest hatten wir hier zuletzt 90 Besucher.«

Integraler Bestandteil dieser Öffnung sind regelmäßige Führungen für Schulklassen. Dabei stellen die beiden Vorstandsmitglieder immer wieder fest, dass trotz der vielbeschworenen Erinnerungskultur bei vielen Schülern ein großer Mangel an Wissen herrscht. Und diese Leerräume werden allzu schnell mit alten Stereotypen gefüllt. »Das kann man aber ändern, sobald man etwas erklärt«, betont Aviv, der sich auch über Lehrer ärgert, die kindliche Neugierde sofort mit einem Tabu belegen. »Wenn ein Kind fragt: ›Warum haben die Juden eigentlich so viel Geld?‹, dann ist das nicht peinlich, sondern eine Chance, ins Gespräch zu kommen und gedankenlos aufgeschnappte und weitergegebene Vorurteile auszuräumen. Wenn einer fragt, ist das ja schon die halbe Miete, den darf man doch nicht mit Gewalt einschüchtern.«

Viele haben Defizite

Auf dem Papier ist die Jüdische Gemeinde Gießen orthodox, die Geschlechter sitzen beim Gottesdienst getrennt. Allerdings seien nur 30 bis 40 der Mitglieder wirklich streng religiös, weiß de Donges-Amiss-Amiss, ansonsten seien in der Gemeinde so ziemlich alle Glaubensrichtungen vertreten: von traditionell Gläubigen bis zu Atheisten. Eine größere Klammer ist die Herkunft aus der früheren Sowjetunion, die 260 von 270 teilen. Dort wurden Religionen nicht gepflegt, sondern bekämpft. »Sie haben große Defizite in ihrem Glauben«, sagt Aviv, »viele hatten vorher noch nie eine Thora in der Hand gehalten.«

Auch höre er zu oft den Satz: Ich bin zu alt für eine neue Sprache. »Die hätten aber längst Deutsch lernen müssen. Sie tun es nicht und damit ghettoisieren sie sich selbst und schotten sich ab«, kritisiert der Gemeindevorsitzende, der auf die Jugend setzt: »Die haben andere Erfahrungen gemacht und andere Interessen. Und das macht sie offener.«

Das alles zeigt, wie weit man auch 45 Jahre nach der Rückkehr jüdischen Gemeindelebens nach Gießen noch von einer Normalität entfernt ist. »Normalität kann es nie mehr geben«, schließt Dow Aviv, »und deshalb müssen wir uns alle jeden Tag um diese Normalität bemühen«.

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