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Wie konnte es so weit kommen?

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Geflüchtete aus der Ukraine kommen an der ukrainisch-polnischen Grenze am Grenzübergang in Korczowa an. Über Ursachen und Auswirkungen des Kriegs diskutierten Teilnehmer im Online-Chat mit JLU-Experten. © Visar Kryeziu/AP/dpa

30 Fragen - vier Experten: Onlinediskussion des GiZo zu drängenden Fragen des Ukrainekrieges fand viele Interessenten. Am Mittwoch, 9. März , gibt es eine Neuauflage.

Gießen. Knapp zwei Wochen nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine drängen sich der Öffentlichkeit immer mehr Fragen auf. Das Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZo) lud aus diesem Grund zu einer Informationsveranstaltung für die Gießener Öffentlichkeit und für Studierende der Justus-Liebig-Universität ein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beantworteten rund zwei Stunden Fragen rund um »Putins Krieg in der Ukraine«. Schon in der Ankündigung stellte das GiZo gesammelte Fragen in den Raum, die von den Experten beantwortet werden sollten. Bei der offenen Fragestunde waren Vertreter verschiedener Disziplinen wie der Geschichts-, Sprach-, Rechts-, Politik-, und Wirtschaftswissenschaften anwesend. Mit Prof. Monika Wingender, Prof. Andrea Gawrich, Prof. Thomas Bohn und Prof. Matthias Göcke beantworteten vier Professoren gemeinsam im Tandem mit wissenschaftlichen Mitarbeitern die Fragen aus dem Livechat.

Rund 30 Fragen konnten innerhalb von zwei Stunden beantwortet und nähergehend erläutert werden, nachdem rund 70 eingegangen waren. Moderator Gleb Kazakov vom Institut für Osteuropäische Geschichte teilte die Fragen den jeweiligen Professoren und Mitarbeitern zu und führte in die Diskussionen ein.

30 Fragen

Der Fragenkatalog, den die Experten zu beantworten hatten, war breitgefächert. Ein Teilnehmer richtete an Andrea Gawrich die Frage, wie hoch die Gefahr eines Atomkriegs sei. »Das ist sicherlich die Schlüsselfrage. Die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung. Die können wir derzeit seriös nicht wirklich beantworten. Wir können aber inzwischen schlussfolgern, dass die nukleare Option zumindest auf dem Tisch liegt. Das ist Teil des Drohszenarios der russischen Führung«, sagte Gawrich. An Fabian Schöppner vom Institut für Politikwissenschaften erging die Frage, welche Gefahr für Ungarn bestünde. »Ich denke, wir müssen uns erstmal mit dem Begriff von »Gefahr« auseinandersetzen. Momentan sehen wir eine große Strömung an Flüchtlingen, die jetzt von der Ukraine in Polen, Slowakei, Moldau und Ungarn hineinfließen. Das, im Gegensatz zu der Flüchtlingswelle 2015, waren Länder, wo jetzt nicht unbedingt viele Flüchtlinge in diesen Ländern eingeteilt wurden. Auf einer humanitären Basis sehen wir eine Gefahr für die Menschen, die ihre Häuser und Wohnorte verlassen mussten. Ungarn selber kriegt natürlich auch finanzielle Unterstützung. Ich sehe eine geringe Wahrscheinlichkeit der Gefahr für Ungarn«.

Wie könne es aber sein, dass ein einzelner Mann wie Wladimir Putin einen Kontinent so sehr im Griff habe, wurde der Historiker Thomas Bohn gefragt. »Wir richten den Blick auf den vermeintlich starken Mann, nämlich Putin. Die Frage lautet im Grunde genommen: Wie ist es dazu gekommen, dass Wladimir Putin in so einem riesigen Land so eine exklusive Stellung einnimmt? Es gab immer das Bestreben, demokratische Tendenzen zu unterdrücken. Beispielsweise die Gängelung der eigenen Zivilgesellschaft und der eigenen Medien. Putin kann in der Außenpolitik alleinig Regie führen.

Anders gefragt: Warum schreitet niemand von innen ein? Weil Putin die Kontrolle in Russland innehat«. Wenn Putin aber die Kontrolle über die Medien innehabe, so die Fragesteller, welche Berichte, die aus dem Kriegsgebiet kommen, können dann verifiziert werden?

Reine Propaganda?

Bestünde nicht die Gefahr, so die Interessierten weiter, dass ein Großteil der Information reine Propaganda sei? »Wenn die Nachweise vor Ort gemeint sind, dann müsste man aus meiner Sicht unterscheiden, was derzeit schwierig ist. Die Opferzahlen beider Seiten sind derzeit sehr schwierig zu überprüfen. Die Zahl der gefallenen russischen Soldaten ist beispielsweise immer noch ungewiss. Das russische Verteidigungsministerium behauptet, es seien nur 500 Soldaten gefallen, was sehr unwahrscheinlich ist. Nach ukrainischen Berichten sind es weit über 9000«, erzählte Ekaterina Sergeeva, Lektorin für Russisch an der JLU. Wingender ergänzte hierzu, dass die vielen Augenzeugenberichte der ukrainischen Bevölkerung nicht zu vernachlässigen seien. »Familien sind auseinandergerissen, viele sind geflohen und Teile der Familien sind noch zu Hause, vor allem die Männer. Wir haben Kollegen hier, die mittlerweile aus dem Gebiet eingetroffen sind und Berichte abliefern, was dort im Einzelnen passiert. Und natürlich die Menschen, die vor Ort verbleiben und mit ihren Handys Videos machen. Das ist eine wichtige Informationsquelle«, unterstrich die Sprachwissenschaftlerin. Neben der Diskussion rund um die Situation vor Ort wurde ebenfalls breit die Thematik diskutiert, wie denn den Menschen vor Ort und auch in Deutschland am besten zu helfen sei. Als Sofortmaßnahme hat das GiZo auf seiner Webseite (www.uni-giessen.de/fbz/zentren/gizo/archiv/2022/nothilfe) eine Übersicht mit Möglichkeiten zu Verfügung gestellt. »Uns ist es ein wichtiges Anliegen, Sofortmaßnahmen sowohl für Menschen in wie aus der Ukraine zu Verfügung zu stellen«, betonten Wingender und Sergeeva. Ebenso wichtig sei zu betonen, dass russischstämmigen Menschen in Deutschland keine Verantwortung für den Krieg in der Ukraine übertragen werden könne. »Wir müssen auch darauf achten, dass russischstämmige und russischsprechende Menschen hier nicht Opfer von Repressionen werden, nur weil sie aus Russland stammen. Das ist Putins Krieg, nicht der Krieg der Russen«, unterstrichen die Teilnehmer der Diskussion.

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