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Wieviel ist einsfünfzig?

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Von: Rüdiger Schäfer

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Eine »Schwimmnudel« als Demonstrationsobjekt: Ordnungspolizist Lars Wiegandt zeigt, wieviel der Mindesabstand von 1,50 Meter beim Überholen ist. Foto: Schäfer © Schäfer

Die Aktion »Mit Abstand sicher unterwegs« auf dem Kirchenplatz in Gießen will aufklären und sensibilisieren. Eine Neuauflage gibt es am kommenden Donnerstag an gleicher Stelle.

Gießen. »Links kratzt dich als Radfahrer fast der Außenspiegel eines Busses. Nur gut, dass rechts keiner die Autotür aufmacht.« Dieses mulmige Gefühl beschreibt Lars Wiegandt, als er zwei Tage zuvor als Radstreife der Ordnungspolizei die Marburger Straße hinuntergefahren ist. »Der Überholabstand zu mir wurde sehr oft nicht eingehalten. Da müssen wir mehr aufklären«, war die Schlussfolgerung.

Wiegandt steht mit einem Kollegen vor einem großen Bus der Ordnungspolizei während des Wochenmarktes auf dem Kirchenplatz und will im Rahmen der Landeskampagne »Mit Abstand sicher unterwegs« diese Aufklärungsarbeit leisten. Sie betrifft die Stärkung der Verkehrssicherheit in hessischen Kommunen. Der Fokus liegt hierbei auf dem in der StVO-Novelle 2020 geregelten Überholabstand: »Wer andere Verkehrsteilnehmende, die zu Fuß, mit dem E-Roller oder mit dem Rad unterwegs sind, mit einem Kraftfahrzeug überholt, muss innerorts mindestens 1,5 Meter, außerorts sogar mindestens zwei Meter Abstand halten.«

Auch auf weitere Themen rund um die Sicherheit im Straßenverkehr macht die Kampagne aufmerksam. Infos dazu und interaktive Angebote zum Wissenstest unter www.mit-abstand.de.

»Wir erhoffen uns heute, dass wir Autofahrer ansprechen können, dass wir mit verschiedenen Sachen zeigen können, was einsfünfzig lang ist, sodass mit sicherem Abstand überholt wird und der Fahradfahrer sich dabei auch wohlfühlt.«

Demonstriert wird dies mit einem Teppich, einem älteren Rad und einer »Schwimmnudel«, alles 1,5 Meter lang. Seine Maßgabe an die Autofahrer? »Wenn man einen Fahrradweg hat und da fährt ein Radfahrer drauf, muss man mindestens mit der linken Hälfte seines Autos über die Mittellinie fahren, damit man einen sicheren Abstand hat.« Denn wenn man auf seiner Spur bleibe, habe man in keinem Fall den sicheren Abstand von 1,50 m zu dem Radfahrer gewahrt. Ist man in Gießen genug geschützt? »Es müsste noch mehr Radspuren geben, die außerhalb der Fahrbahnen verlaufen. Ist natürlich schwierig umzusetzen in der Stadt«, so Wiegandts Antwort.

Angelockt von der Aktion auf dem hinteren Teil des Kirchenplatzes werden kaum Autofahrer, dafür jede Menge leidklagende Radfahrer. Für Matthias Matzen (58), Lehrer an der Ostschule, ist das »drängendste« beim Radfahren das Abstandsproblem. »Man hat mindestens ein- oder zweimal am Tag das Gefühl: Uh, das war knapp. Hätte auch schiefgehen können.« Seit 40 Jahren fahre er mit dem Rad. »Wenn meine Schüler sagen, sie trauen sich nicht zu fahren, dann weiß ich warum.« Als Autofahrer wechsle man die Perspektive, werde ungeduldig. Polizisten seien zumeist mit dem Auto auf Streife. Woher sollten die also die Perspektive eines Radfahrers kennen? Er kann nachvollziehen: »Steig ich ins Auto, bin ich jemand anderes.« Als Radfahrer frage er sich: »Wie kann man in einer Straße bei rechts und links parkenden Autos überhaupt noch überholen? Das geht gar nicht.« Doch auch er wolle als Radfahrer nicht dauernd einen Autofahrer hinter sich haben. »Ich mach dann Platz, was eigentlich falsch ist. Ich motiviere ja geradezu zum Überholen.«

Bei von ihm nicht eingehaltenem Abstand von »einem halben bis einem Meter« zu rechts parkenden Autos habe er schmerzhafte Erfahrungen gemacht. »Ich bin dabei mal gegen eine sich öffnende Tür geknallt.« Wie empfindet er solche Aktionen wie am heutigen Tag? »Als sehr, sehr gut! Doch leider nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.«

Die 58-jährige Christine, die ihren Nachnamen nicht verraten will, ist nach langem Aufenthalt in Berlin und London seit letztem Dezember wieder nach Gießen zurückgekehrt. »Im Vergleich zu Berlin ist das Radfahren in Gießen ganz entspannt, die Autofahrer rücksichtsvoll.« Was sie von dem Verkehrsversuch hält? »Davon habe ich bisher noch nichts mitbekommen«, antwortet sie erstaunt. Auf dem Anlagenring fahre sie zudem »bisher nicht rum, weil das mir zu heiß ist.«

Zur Kritik an dem Verkehrsversuch hat der Ostschullehrer einen Vorschlag: »Wenn man zwei Wochen vorher all die Radfahrer, die den Anlagenring vermeiden, morgens zwischen sieben und acht dorthin schicken würde, merkten die Autofahrer, wieviel Radfahrer eigentlich da fahren würden. Und wenn die da fahren, dass der Verkehr dann steht.«

Zu dem Verkehrsversuch sind Pläne ausgelegt, »um den Leuten klarzumachen, dass man trotzdem nach Gießen reinfahren und alle Parkhäuser erreichen kann, um einkaufen zu gehen«, so Ordnungspolizist Wiegandt.

Da bemängelt Matthias Körner, Geschäftsführer des DGB Mittelhessen: »Warum sind denn nur die Parkhäuser eingezeichnet? Muss ich von Lollar kommend einmal fast um den ganzen Ring fahren, um in die Walltorstraße zu gelangen?« Zufrieden ist er dann mit der Auskunft, dass er - auf dem Plan nicht eingezeichnet - in die Dammstraße nach links hineinfahren kann. Käme er von der Moltkestraße her, müsse er gar nicht mehr bis zur Dammstraße, sondern könne dann vorher direkt in die Walltorstraße - was bisher nicht möglich ist.

Bei einem digitalen Verkehrssicherheitsquiz kann jeder seine Verkehrskenntnisse testen. Da werden zwölf Fragen gestellt. »Es hat bisher noch keiner geschafft, alle zwölf richtig zu beantworten - selbst die kürzlich den Führerschein mit Bravour bestanden haben und auch erfahrene Autofahrer nicht.« Wiegandt gesteht: »Sogar ich habe nur elf gewusst.« Online mitmachen kann jeder unter www.mit-abstand-sicher-unterwegs.de/quiz. Wiederholt wird der Aktionstag am kommenden Donnerstag auf dem Kirchenplatz ab 11 Uhr.

Mehr Infos zum Verkehrsversuch unter www.giessen.de/ verkehrsversuch.

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