1. Startseite
  2. Stadt Gießen

Willy Blum und die Marionetten

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Albert Mehl

giloka_0903_jcs_Puppensp_4c
Peter Waschinsky mit einer Marionettenvorführung, daneben Annette Leo, die Autorin des Buches »Das Kind auf der Liste«. Foto: Mehl © Mehl

Die Historikerin Annette Leo war zu einer ungewöhnlichen Lesung nach Gießen gekommen. Es ging um das aufwühlende Buch »Das Kind auf der Liste«. Beleitet wurde sie von einem Puppenspieler.

Gießen . Lesungen untermalt von einem Klavierspiel oder einem anderen Musikinstrument, das ist üblich. Eine Lesung begleitet von einem Puppenspieler, der diverse Feinheiten des Marionettenspiels demonstriert, das ist außergewöhnlich. Einen außergewöhnlichen Abend in diesem Format erlebten (bedauerlicherweise) nur wenige Gäste im Jugend- und Kulturzentrum Jokus, als Annette Leo aus ihrem Buch »Das Kind auf der Liste« las. Und dabei von Peter Waschinsky begleitet wurde, einem renommierten Kenner und Vertreter des Puppenspieler-Metiers. Eingeladen hatte die Dext-Fachstelle Gießen (Demokratieförderung und Extremismusprävention) mit dem Jugendbildungswerk der Stadt.

Zur Ehrenrettung der promovierten Historikerin und Autorin aus Berlin und des Puppenspielers aus der deutschen Hauptstadt sei ergänzt, dass die gleiche Vorführung tags darauf vor Gießener Schülerinnen und Schülern lange vorher ausverkauft war. Und zur Einordnung der außergewöhnlichen Lesung sei auf den nächsten Donnerstag (16. März) verwiesen. Denn dann steht eine Gedenkstunde im Hermann-Levi-Saal im Rathaus auf dem Programm, in der an die Deportation Gießener Sinti und Roma im März 1943 erinnert werden soll. Beide Veranstaltungen sind Teil einer Gedenkreihe zu diesem Thema.

Das ist der Rahmen zu Annette Leo und ihrer Lesung. Und das besagte Kind auf der Liste, das ist Willy Blum. »Willy Blum?«, werden jetzt viele fragen. Nie gehört. Doch selbst Menschen, die nicht in den neuen Bundesländern groß geworden sind, werden den Namen Jerzy Zweig kennen. Die Hauptperson des Romans »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz. Eines Romans wohlgemerkt. Denn in der historischen Wirklichkeit des Jerzy Zweig spielt Willy Blum eine ganz wichtige Rolle. Nicht, wie oft kolportiert wurde, weil er sich für Jerzy Zweig opferte und in die Gaskammer ging. Nein. Weil er, damit den sicheren Tod vor Augen, bei seinem jüngeren Bruder Rudolf im Konzentrationslager Buchenwald blieb, auf der Liste von 200 Kindern und Jugendlichen. Wovon Jerzy Zweig profitierte. Dessen Name dadurch auf der Liste gestrichen wurde. Und der dadurch überlebte.

Dass diese Zusammenhänge auch in der dritten Verfilmung des Apitz-Romans anno 2015 negiert wurden, war der Anlass für Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma Deutschlands, dagegen zu protestieren. Denn Willy Blum war als Sohn von Alois und Toni Blum und Bruder von neun weiteren Geschwistern ein »Zigeuner«, wie diese seit 600 Jahren im deutschsprachigen Raum lebende Minderheit nicht nur zur Nazi-Zeit genannt wurde. Darauf wies Rinaldo Strauß als Stellvertretender Geschäftsführer des hessischen Landesverbands der Deutschen Sinti und Roma im Rahmen der Veranstaltung im Jokus hin. Und Linken-Stadtrat Francesco Aman erläuterte, dass Willy Blum und Jerzy Zweig beides »unschuldige Opfer« gewesen seien, doch der Name Willy Blum im Verborgenen geblieben sei.

Bis Annette Leo, vom Protest Romani Roses motiviert, sich der Geschichte des mit 16 Jahren zusammen mit seinem jüngeren Bruder Rudolf vergasten Willy Blum annahm, die Geschichte von Willy und der Familie Blum aufarbeitete, nach zweieinhalb Jahren Recherche und Gesprächen mit den Nachkommen der Familie Blum das Buch »Das Kind auf der Liste« veröffentlichte, davon im Jokus in Gießen berichtete und daraus las. Mit der Unterstützung des Puppenspielers Peter Waschinsky. Wobei man wissen sollte, dass die Familie Blum über Jahrzehnte, vor und nach der Nazi-Zeit, ein Marionettentheater betrieb.

Auch interessant