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»Wir haben uns verändert«

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Von: Ingo Berghöfer

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DSC_0459_090123_4c © Benjamin Lemper

Bei seiner ersten Neujahrsansprache nimmt Gießens Oberbürgermeister Abschied von alten Gewissheiten. Trotz vieler Krisen verbreitet Frank-Tilo Becher aber auch Zuversicht.

Gießen . Obwohl er bereits länger als ein Jahr im Amt ist, hielt Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher am Sonntag vor rund 250 geladenen Gästen im Atrium des Rathauses seine erste Neujahrsansprache. 2022 war der Empfang den Corona-Maßnahmen zum Opfer gefallen. Auf die Pandemie ging der Sozialdemokrat dann auch im ersten - eher düsteren - Teil seiner Rede ein, in der er sich den zahlreichen Krisen der Gegenwart widmete. Im Mittelstück setzte er sich mit der aktuellen Lage der Stadt auseinander, bevor er schließlich auf die künftigen Vorhaben der grün-rot-roten Koalition einging.

Umrahmt und unterbrochen wurden Bechers Ausführungen vom Instrumental-Duo Hans Kreuzinger (Saxofon) und Marina Sagorski (Piano) sowie dem lautstark gefeierten Ukrainischen Vokalensemble der Musikschule Gießen.

Auch wenn durch diese Struktur Bechers Vortrag zum Ende hin immer versöhnlicher und zuversichtlicher wurde, kam das Stadtoberhaupt natürlich nicht umhin, auch an die unangenehmen Ereignisse von 2022 zu erinnern. Das war nicht nur im wortwörtlichen Sinn ein »Seuchenjahr«, auch wenn Corona mittlerweile weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden ist. 2022 war auch ein Jahr, »in dem selbstverständliche Gewissheiten verlorengingen oder zumindest brüchig wurden«, sagte Becher.

Vertrauensverluste

Zu den Entwicklungen, die das Vertrauen in die politische Entwicklung untergraben hätten, zählt er neben dem russischen Überfall auf die Ukraine und die Pandemie auch die Klima- und Energiekrise sowie das Erstarken rechtsextremer Gesinnungen. Die würden zunehmend in die Öffentlichkeit getragen, da man versuche, diese in einen »scheinbar pluralistischen Diskurs« einzureihen. Als konkretes Beispiel für den Rechtsruck nannte Becher die Messe mit NS-Devotionalien in den Hessenhallen, welche die Stadt vergeblich zu stoppen versucht hatte.

Becher erinnert auch an die Ausschreitungen rund um das Eritrea-Festival am selben Ort. Man werde im kommenden Jahr das friedliche Zusammenleben der eritreischen Gruppen in der Stadt fördern, versprach der Oberbürgermeister. Interventionen von außen seien bei diesem Prozess nur kontraproduktiv, spielte er dabei offenbar auf die von der Eritreischen Botschaft bundesweit orchestrierte Demonstration von Regimeanhängern an, die die Reaktion auf den Überfall der Regime-Gegner auf das Festival in den Hessenhallen gewesen war.

Frank-Tilo Bechers Fazit in einer Zeit des Umbruchs: »Wir haben uns verändert, vieles verändert sich gerade und manche notwendigen Veränderungen haben noch nicht einmal begonnen«.

Fachkräfte fehlen

Dass auch in Gießen die Zeichen auf Veränderung stehen, wurde im »Ärmel hoch und losgelegt« betitelten Mittelteil der Neujahrsansprache deutlich. Am Beispiel der Verwaltung zeigte Becher, dass der demografische Wandel mit dem Ausscheiden der »Boomer-Generation« aus dem Erwerbsleben das Land vor noch gar nicht richtig abzusehende Probleme stellt.

So seien 44 Prozent der rund 1500 städtischen Bediensteten älter als 50 - und noch während seiner laufenden Amtszeit werden rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ruhestand gehen. Darauf angemessen zu reagieren, sei eine seiner größten Herausforderungen, betonte das Stadtoberhaupt.

Auch die Bürgerbeteiligungssatzung - die nach ihrer Überarbeitung jetzt Einwohnerbeteiligungssatzung heißen soll - sei ein wichtiges Werkzeug, um gesellschaftliche Fliehkräfte abzubremsen. Niedrigschwelligere Angebote zum Interessenausgleich hätten als vorgeschaltete Formate auch in der Schwanenteich-Debatte geholfen, ist sich Becher sicher. Als Beispiele für die »gelingende Vielfalt« in einer Stadt mit Einwohnern aus 151 Nationen nannte er die Gründung der Jüdisch-Islamischen Gesellschaft und den »Christopher Street Day«. Die Regenbogenfahne vor dem Rathaus sei das klare Bekenntnis der Stadt zu Akzeptanz und Vielfalt.

Gießen Vorreiter?

Sozialer Zusammenhalt und gesellschaftliche Vielfalt seien für ihn keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille, betonte Becher - wohl auch vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen infolge der Krawalle, vor allem in der Berliner Silvesternacht. Becher strich seine Wertschätzung für »unsere Rettungskräfte« heraus. Weil diese aber ebenso wie die Polizei immer auch in vorderster Linie unseren Staat verkörperten, befürchte er, dass diese Entwicklung nicht »jenseits eines Krisengefühls betrachtet werden kann, das der bestehenden Ordnung nicht vertraut und sie zu untergraben versucht«.

Den Ausblick auf 2023 widmete der OB vor allem dem Reizthema Nummer eins. Ausdrücklich verteidigte er den bald beginnenden Verkehrsversuch auf dem Anlagenring. Der gewinne mit seiner fachlichen Konkretisierung an Zustimmung. Ohne Experimente und Erprobung werde man keine neuen Wege entdecken und »im besten Fall wird Gießen damit Vorreiter einer städteplanerischen Entwicklung, die sich andere abgucken«. Und falls dieser Idealfall nicht eintritt? »Ich habe immer gesagt, dass die Ergebnisse eines Versuches ehrlich auszuwerten sind«, betonte Becher, der abschließend mit einem Kästner-Zitat die Bürger zu eigenem Engagement ermunterte.

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DSC_0446_090123_4c © Benjamin Lemper
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DSC_0465_090123_4c © Benjamin Lemper

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