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»Wir können sehr einnehmend sein«

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»Wenn man 20, 25 Jahre Musik macht, dann stehst du gerade für deine Texte, für die Auseinandersetzung mit dir und der Welt« - sagt der Hamburger Musiker Pohlmann. Am 20. August spielt er beim Gießener Stadtfest. Foto: Fabian Lippke © Fabian Lippke

Der Hamburger Pohlmann spielt beim Stadtfest am Samstagabend auf der Kirchenplatz-Bühne. Im Interview verrät der 50-Jährige, wie er das Gießener Publikum für sich begeistern will.

Gießen. Beim Stadtfest sind wieder drei Tage lang zahlreiche interessante Bands unterschiedlicher Stilrichtungen auf den Gießener Straßen und Plätzen zu entdecken. Dazu zählt vor allem der Hamburger Singer/Songwriter Pohlmann, der sich zusammen mit zwei musikalischen Begleitern am Samstagabend um 22.45 Uhr als Headliner auf der Kirchenplatz-Bühne präsentieren wird. Im Interview spricht der 50-Jährige über die jugendliche Leichtigkeit des Seins, seine prägenden Jahre als Kellner in Hamburg und den Plan, das Gießener Publikum zu später Stunde für sich einzunehmen.

Für all diejenigen, die Sie nicht kennen: Wie verlief Ihr musikalischer Werdegang?

Ich habe mit sieben Jahren angefangen, auf dem Fahrrad zu singen. Mit 16 konnte ich es dann (lacht). Mit 17 hatte ich meine erste Band in Paderborn, dann drei weitere in Münster und Osnabrück, bis ich nach Hamburg weitergezogen bin. Meinem Vater, der eine Baufirma hatte, habe ich erzählt, dass ich dort Bauingenieur studiere. Stattdessen habe ich dort aber die nächste Band aufgemacht, ein Dreivierteljahr später hatte ich einen Plattenvertrag. Den habe ich zu Hause auf den Tisch gelegt - und mein Vater wusste, dass ich es wirklich ernst meinte.

Von da an ging es professionell weiter?

Wir hatten mit Goldjunge wirklich einen großen Plattenvertrag bei einem Major Label ergattert. Trotzdem ist das Projekt geflopt. Ich habe dann als Kellner in einer Kneipe im Schanzenviertel gearbeitet und eine Reihe mit Livemusik initiiert: »Rocker vom Hocker«. Mein Vater hat immer gesagt: »Wer saufen kann, kann auch arbeiten«. Also habe ich auf eine Tafel in der Kneipe geschrieben: »Wer spielen kann, kann auch saufen (lacht)«. Jeder konnte da mitmachen, das wurde sehr erfolgreich. Und so lernte ich dort auch Henning Wehland von den H-Blockx kennen, der dann eine Zeitlang mein Manager war.

In der Kneipe traf sich die Hamburger Musikerszene?

Phillip Poisel kam vorbei, noch vor seiner großen Karriere. Gysbert zu Knyphausen war mal da, Cäthe und Sasha, Jan Plewka von der Band Selig: Das war für kurze Zeit die Anlaufstelle, um Leute zu treffen, die auch Musik machten. Für mich war das quasi wie Schulunterricht. Jeder, der Lust hatte, konnte da spielen. Abends ging das schon draußen los, und irgendwann drinnen weiter - manchmal bis 12 Uhr am nächsten Mittag (lacht).

Sie sind also zu Beginn Ihrer Karriere so richtig durchs Stahlbad gegangen und haben sich vor kleinstem Publikum ausprobiert?

Genau. Anfangs habe ich Metal und Grunge gemacht. Obwohl Tracy Chapman, Cat Stevens, Bob Marley meine großen Vorbilder waren. Aber das habe ich mir selbst zunächst nicht zugetraut. So habe ich meine ersten eigenen Lieder mit 24, 25 geschrieben. Zwischen unserem damaligen Metal und meiner frühen Single »Wenn jetzt Sommer wär« besteht natürlich ein Riesenunterschied. Das zeigt aber auch, wie sehr das Machbare das Ergebnis bestimmt. Und dann schreibst du plötzlich einen Text auf Deutsch und bist raus aus dem düsteren Grunge mit seinem Weltschmerz. Es war damals eine sehr lustige Zeit und die meisten meiner damaligen Songs erzählen auch davon.

Alleine mit der Gitarre unterwegs zu sein, deutschsprachige Lieder zu singen, birgt ja vielleicht auch die »Gefahr«, dass die Leute richtig zuhören?

Das kommt noch dazu. Du merkst: Du bist ganz nah dran an deiner Muttersprache und steckst nicht mehr so in einem Rollenspiel. Wenn du vom Englischen ins Deutsche wechselst, lässt du die Leute natürlich auch wirklich stark rein in deine Gefühlswelt. Ich hatte da am Anfang auch ein bisschen Berührungsängste.

War die große Hamburger Szene der 90er musikalisch nicht prägend für Sie?

Es gab da die Hamburger Schule: Blumfeld, Die Sterne, Tocotronic. Das war aber nicht unser Ding. Für so etwas waren wir zu lebenslustig (lacht). Für mich waren die wie Kapern. Ich hab das erst später verstanden, bin halt von der Hauptschule. Das war aber Studentenmucke (lacht).

Aber zur Musik gehört immer auch ein bisschen Melancholie. Sonst wird es doch zu flach ...

Ja, die war bei mir auch von Anfang an mit drin, teilweise gelungen, teilweise auch naiv. Es hatte aber auch eine direkte Leichtigkeit. Etwa das Lied »Mädchen und Rabauken«: Was man nicht bekommt, das will man haben. Damals, mit Mitte 20, hast du in der Kneipe Mädels gesehen, die auf den schlimmsten Finger stehen, der da rumlief. Und wenn sie ihn dann hatten, sollte der sich ändern, wollte aber natürlich nicht. Solche Beziehungen waren um mich herum zu beobachten. Oder das Lied »Fliegende Fische«. Da geht es um die Rollenvorstellung, die Eltern für ihre Kinder haben. Der fliegende Fisch ist ein Symbol der Revolution, der etwas anders macht als das, was von ihm erwartet wird. Der aus seinem angestammten Element herauskommt und die Richtung wechselt. Darin steckt doch eher eine luxuriöse Melancholie, weil ich damals wirklich eine gute Zeit hatte.

Haben Sie sich diese Leichtigkeit bewahrt?

Nein. Das ist gar nicht möglich in der Zeit, in der wir heute leben. Man sieht als Songwriter, der manchmal stundenlang in seinem Kämmerlein sitzt, sehr intensiv, wie sich die Welt entwickelt. Und dann hast du plötzlich ein Thema am Wickel, mit dem du dich intensiv beschäftigst. Wie einmal, als mich in Hamburg nachts ein Taxifahrer nach Hause fuhr. Der stammte aus Kabul, war erst seit einem Jahr im Land und konnte schon die Adresse »Poelchaukamp« richtig aussprechen. Ich sagte, das würde ich in seiner Sprache nach einem Jahr nicht hinbekommen. »Kein Problem, bei uns tragen die Straßen keine Namen mehr«, hat er geantwortet. »Weil da alles zerbombt ist.« Da kamen mir die Tränen ...

Solche Erlebnisse fließen in Ihre Musik ein?

Ich habe keine musikalischen Visionen. Dafür ist mein Produzent da. Ich bin für die Themen verantwortlich. Ich denke, ein echter Optimist steht auf dem Fundament des Pessimisten. Dafür kämpfe ich grundsätzlich. Es wird schwieriger in Zukunft, man schaut genau hin, will aber nicht oberlehrerhaft rüberkommen. Zumal doch derzeit alle von uns gezwungen werden, zu jedem Thema Stellung zu nehmen: Corona, Krieg, Klimawandel. Es ist schon heftig. Für mich geht es darum, miteinander zu diskutieren, ohne sich gegenseitig in Brand zu setzen. Ich versuche auf der Bühne, über Gelassenheit und Besonnenheit zu reden: Es ist auch eine Art Bitte an sich selbst.

Wie haben Sie sich während der stärksten Corona-Phase über Wasser gehalten?

Ein Kinderalbum geschrieben. Ich habe eine kleine Tochter, da entstehen viele Themen von selbst. Etwa über Pony Emma auf dem Rummelplatz, das keine Lust mehr hat, versklavt die immer gleiche kleine Runde mit den Kindern zu drehen. Es sieht jeden Tag den Hintern von Bobby, Lutz, Paula oder Wutz. Emma klebt ihnen in der Nacht einen Zettel mit Ausbruchsplan an die Hintern. Am nächsten Tag hauen sie gemeinsam ab in die Mongolei. Solche Themen habe ich da gefunden.

Und wie war es mit den fehlenden Auftritten?

Schrecklich! Am Anfang war ich da noch recht stumpf. Aber nach zwei Jahren kam ich schon in eine Identitätskrise. Das war nicht ohne. Wenn man 20, 25 Jahre Musik macht, dann bist du das eben. Dann stehst du gerade für deine Texte, für die Auseinandersetzung mit dir und der Welt, stellvertretend für all die Leute, die deine Musik hören und sich darin wiederfinden. Und dann machst du Werbung für eine Tour, dann für die nächste, während gleichzeitig alles abgesagt wird, was du gerade beworben hast. Das ist eine Psychohölle.

Immerhin: Sie sind gerade wieder auf Tour ...

Ja, endlich! Ich war gerade ein paar Tage unterwegs, das hat richtig Bock gemacht. Jetzt schreibe ich ein paar neue Songs, bringe eine kleine EP heraus und im Januar steht die nächste Tour an. Das bringt schon Hoffnung.

Meine Schlussfrage: Sie kommen mit zwei Begleitern nach Gießen? Und Ihr Konzert auf dem Riesenfest mit den zigtausend Besuchern beginnt ja eher spät. Haben Sie da einen Trick, wie Sie die Leute vor der Bühne zusammenhalten?

Ich bin gespannt, was da auf mich zukommt (lacht). Klar, viele Leute auf dem Fest werden mich nicht kennen. Ich glaube aber, dass das, was wir da musikalisch bieten oder was ich auf der Bühne erzähle, ziemlich einnehmend sein kann. Ein Trick ist, authentisch zu sein. Aber wenn das ein Trick ist, ist es ja auch schon wieder nicht authentisch. Ich glaube aber, dass wir uns das bewahren konnten.

Heute um 18 Uhr fällt der offizielle Startschuss für das Stadtfest, den Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher auf dem Kirchenplatz geben wird. Es folgen ab 19 Uhr drei Musikacts: Retro-Pop mit »Übermut«, Janne & Band mit Singer/Songwriter-Pop ab 20.30 Uhr und gegen 22.30 wird Mr. Irish Bastard Folk-Punk präsentieren.

Neben den bekannten Schauplätzen in der Innenstadt sind dieses Jahr neu hinzugekommen der Landgraf-Philipp-Platz, das Weindorf in der Kaplansgasse und eine Südamerika-Karibik-Bühne am Selterstor. (hm)

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