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»Wir verharren in Schockstarre«

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Von: Benjamin Lemper

„Aller Illusionen beraubt“: Die Beschäftigten von Karstadt in Gießen wehren sich gegen eine drohende Absenkung ihrer Gehälter.
„Aller Illusionen beraubt“: Die Beschäftigten von Karstadt in Gießen wehren sich gegen eine drohende Absenkung ihrer Gehälter. © Berghöfer

Der Betriebsrat von Karstadt in Gießen hat sich mit einem offenen Brief an die Unternehmensleitung von Galeria gewandt. In deutlichen Worten wird scharfe Kritik geübt. Der Anlass ist ernst.

Gießen (bl). Die Hiobsbotschaften für die Karstadt-Belegschaft reißen nicht ab: Gerade erst haben 17 Kolleginnen und Kollegen in Gießen erfahren, dass sie Ende Juni ihren Job verlieren. Bereits »am Boden liegend«, drohen nun offenbar weitere Einschnitte. Die Unternehmensleitung versuche nämlich in Verhandlungen mit der Gewerkschaft Verdi, obendrein die Gehälter abzusenken, informiert Betriebsrats-Mitglied Iris Damm. Aus diesem Grund werde am heutigen Ostersamstag an einigen Filialen für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für faire Bezahlung und gegen Standortschließungen gestreikt. »Wir in Gießen haben uns gegen einen Streik vor unserem Haus entschieden, glauben wir doch nicht an eine nachhaltige Wirkung. Um dennoch ein Zeichen zu setzen und unsere deutschlandweit streikenden Kollegen zu unterstützen, haben wir aber einen offenen Brief formuliert«, betont Damm gegenüber dem Anzeiger. Und darin wolle man sehr deutlich sagen, »was gesagt werden muss«. Gleichzeitig kommen in dem Schreiben, das »Heimatlos, respektlos und bald auch mittellos« betitelt ist, ein hohes Maß an Wut, Frust und Resignation zum Ausdruck: »Wir wollten den Erfolg ›unseres‹ Unternehmens so sehr. Aber was nun im Zuge dieser dritten Insolvenz passiert, raubt uns alle Illusion.«

»Das ist nicht mehr unser Unternehmen«

Wer bei Galeria Karstadt Kaufhof arbeite, müsse schon seit vielen Jahren »extrem belastbar sein und eine Unmenge an Motivation und Enthusiasmus mitbringen«. Immer mit dem Versprechen, »dass es nun endlich besser wird«, dass die Warenhäuser modernisiert und die Beschäftigten bei Entscheidungen einbezogen würden, sei man auch seit Jahren bereit, im Interesse des Unternehmens zu verzichten: zunächst auf Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, später auch auf einen Flächentarif - »und immer häufiger auf Kollegen«, heißt es weiter. »Und ja, wir haben das geglaubt.«

Für Ernüchterung sorgten aber spätestens die vor wenigen Tagen ausgesprochenen Entlassungen, die angeblich auf einer »Sozialauswahl« basierten. Betroffen seien unter anderem alleinstehende Mütter mit zwei Kindern oder 65-Jährige, die in acht Monaten in Rente gehen. »Acht weitere Kollegen haben wir über eine Änderungskündigung in Kenntnis gesetzt, deren Angebot inhaltlich zum Teil nicht nur unmoralisch, sondern in unseren Augen schon unverschämt ist. Wie soll beispielsweise ein alleinstehender Kollege nach einer Änderungskündigung auf unter eine halbe Stelle wirtschaftlich überleben? Auch den Kündigungsschreiben selbst fehlt jeder Anstand, keine Floskel des Bedauerns oder des Dankes für das Geleistete«, kritisiert der Gießener Betriebsrat in dem offenen Brief.

Zusätzlich zum schmerzhaften Verlust von »einem Teil unserer Familie«, könnte es jetzt mit der beabsichtigten Absenkung der Gehälter - trotz Inflation und steigenden Energiekosten - den nächsten Rückschlag geben. Das wiederum nährt beim Betriebsrat Zweifel an den Erfolgsaussichten des Insolvenzplanes, »wenn direkt nach dessen Verabschiedung der Unternehmensleitung bereits klar zu sein scheint, dass er mit dem - ohnehin niedrigen - Gehaltsgefüge der Mitarbeiter nicht finanzierbar ist«. Die vierte Insolvenz sei schon am Horizont erkennbar.

Laut Verdi werde von Galeria ein Haustarifvertrag angestrebt, der des Namens Tarifvertrag kaum würdig sei. Bei dem aktuellen Zukunftskonzept handele es sich jedenfalls bloß um ein »Kostensenkungsprogramm«. Drei Jahre sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter demnach »keine sichere Entwicklung beim Entgelt bekommen, sondern nur Zahlungen abhängig von der wirtschaftlichen Situation«. Die Arbeitszeit solle noch mehr flexibilisiert und der tarifliche Kündigungsschutz verschlechtert werden.

Das bittere Fazit des Betriebsrates lautet: »Wir verharren in Schockstarre, DAS ist nicht mehr unser Unternehmen. Man raubt uns unsere Heimat, unsere Familie, unsere Zukunft. Es gibt keinen Respekt mehr und keine Wertschätzung. Viele weitere Kollegen orientieren sich nun um. Hier gehören wir nicht mehr hin. Doch solange noch ein paar von uns da sind, kämpfen wir weiter. Nicht mehr für Galeria. Aber für unseren Mikrokosmos: unser Haus in Gießen, unsere Kollegenfamilie und unsere Kunden.«

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