Wird Europa im Donbass verteidigt?

Ukraine-Krieg: Die Grüne Marieluise Beck warnt in der aktuellen Ringvorlesung der Uni Gießen vor verfrühtem Optimismus.
Gießen . Einmal mehr ging auch Marieluise Beck am Dienstag im vorletzten Beitrag der Ringvorlesung des Universitätspräsidenten in der Uni-Aula auf die hierzulande lange ignorierte Leidensgeschichte der Ukraine ein. Deren Schicksal es in den vergangenen Jahrhunderten gewesen, als «Zwischenland« von den mächtigeren Nachbarn im Westen und Osten zu den »Bloodlands« von deren imperialistischen Ambitionen gemacht zu werden.
Zuerst aber erzählte die Sprecherin der ersten Grünen Bundestagsfraktion, ehemalige Migrationsbeauftragte der Bundesregierung und Mitinitiatorin des Petersburger Dialogs die Geschichte ihrer eigenen Zeitenwende und Wandlung von der Friedensaktivistin zur Apologetin von Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete. Die begann schon lange vor dem 24. Februar 2022 in den Bürgerkriegen der 90er Jahre zwischen den Nachfolgestaaten des zerfallenden Jugoslawien. »Mein Denken wurde in einem Punkt auf den Kopf gestellt, weil die Realität eine andere war«, sagte Beck in der gut gefüllten Aula. Keine Waffen in Krisenregionen? Das habe dem serbischen Imperialismus viel zu lange freie Hand gegenüber den unbewaffneten Bosniern gelassen. Die einzige Pseudo-Antwort des Westens sei damals die Entsendung von Blauhelmen gewesen, die lediglich das Mandat hatten, sich selbst zu verteidigen und deshalb auch keine Massaker verhindern konnten.
Wenn man aber direkt vor Ort bei den Schutzbedürftigen sei, ändere sich die eigene Perspektive sofort. Die Grünen sagten heute nicht mehr: »Nie wieder Krieg!«, sondern: »Nie wieder Schutzlosigkeit!« Pazifismus? Das sei eine Fehlschlussfolgerung. «Ich habe inzwischen ein anderes Verhältnis zum Militär.«
Der blinde Fleck in der Erinnerung
Soweit Becks Prolog, mit dem sie ihre Entschiedenheit begründete, auch einem Land wie der Ukraine das unbedingte Recht auf Selbstverteidigung zuzugestehen.
Ausgehend von der »mich ungemein beeindruckenden« Lektüre von Timothy Snyders »Bloodlands« beschrieb sie die Ukraine als eine Land, dem jahrhundertelang nicht nur die Eigenstaatlichkeit verwehrt, sondern auch die eigene Sprache und Kultur abgesprochen worden sei. Ob zwischen den Zaren und Preußen oder später zwischen UdSSR und dem nationalsozialistischen Deutschland, immer wieder sei die Ukraine von den sich überlegen wähnenden Nachbarn aufgeteilt und zerstückelt worden.
Ähnlich wie schon Dr. Monika Wingender, Direktorin des Gießener Zentrums Östliches Europa, in ihren Eingangsworten konstatierte auch Beck der deutschen Erinnerungskultur einen blinden Fleck. Die sei jahrzehntelang auf das Leid der Russen infolge des deutschen Einmarschs in die Sowjetunion fixiert gewesen, obwohl nur zehn Prozent dieses Vernichtungskrieges auf genuin russischem Boden stattgefunden hätten. Verwüstet worden seien aber überwiegend Polen, Weißrussland und die Ukraine.
»Bundeskanzler sind stets zu Gedenkfeiern nach Moskau geflogen, nie nach Kiew«, konstatierte die Grünen-Politikerin. Selbst Brandts legendärer Kniefall im Warschau habe den Opfern des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto gegolten und nicht den polnischen Opfern der Wehrmacht.
Während hierzulande jedes Kind den 1. September als Datum des deutschen Einmarschs in Polen und damit des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs in Europa kenne, sei der für die Polen nicht minder traumatische 17. September hierzulande so gut wie unbekannt. An diesem Tag rollten russische Panzer gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt nach Polen.
Zwischen den beiden größten Blutsäufern im 20. Jahrhundert sah Beck noch weitere Parallelen. Sowohl Hitler als auch Stalin hätten die Ukraine und den Osten Polens als Land ohne Menschen betrachtet. Um dieses Ziel zu erreichen, habe Stalin im so genannten »Holodomor« der 1930er Jahre die Hungerwaffe eingesetzt, der bis zu sieben Millionen Menschen zum Opfer gefallen seien. Hätte Hitler nach dem Sieg über Stalin seinen »Generalplan Ost« verwirklichen können, wären sogar rund 30 Millionen Menschen dem Hungertod preisgegeben worden, schätzt der US-Historiker Snyder in »Bloodlands«.
Auch die Bewusstwerdung der rund 2000 Massaker an Juden auf dem Territorium der Ukraine sei in Deutschland bis zum heutigen Tag nicht angenommen worden. All diese Verbrechen seien unter dem Dach der Sowjetunion verschwunden. Noch 2016 sei eine Resolution im Bundestag über die Verbrechen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs allein am Widerstand der SPD gescheitert. Teile dieser Partei würden sich noch immer weigern, sich diesem Teil der Geschichte zu stellen.
Eine Erklärung für dieses Verhalten findet die 1952 geborene Beck auch in der Geschichte ihrer eigenen Generation. Die 68er wären so damit beschäftigt gewesen, die von ihren Eltern totgeschwiegenen NS-Verbrechen aufzuarbeiten, dass Hinweise auf die Opfer des Stalinismus oft als eine Relativierung empfunden worden seien.
Heute aber zwängen uns die Verhältnisse, Europa neu zu denken. »Eine Normalisierung des Zusammenlebens in Europa wie sie mittlerweile mit Polen erfolgt ist, wünsche ich mir auch mit der Ukraine und eines Tages auch mit Russland«, betonte Beck, denn auch Russland gehöre nicht nur geografisch zu Europa, auch wenn es Wladimir Putin derzeit eher asiatisch verorte.
»Putin hat noch nicht verloren«
Die Mitgründerin des Zentrums Liberale Moderne (das sie als Zwitterwesen zwischen NGO, Think Tank und »ein bisschen Politik« beschrieb) hat jedoch wenig Hoffnung, dass Russland sich im Augenblick aus eigener Kraft reformieren kann. Das Land sei mittlerweile kein autoritärer, sondern ein totalitärer Staat, in dem man bestenfalls nicht einverstanden sein könne, aber nichts sagen dürfe.
»Putin hat den Krieg noch nicht verloren«, warnte die Osteuropa-Kennerin in der sich an ihren Vortrag anschließenden Fragerunde, auch wenn diese Auffassung hierzulande weit verbreitet sei, aber: »Da betrügen wir uns selbst, weil wir uns dann um risikobehaftete Entscheidungen herumdrücken können.«
Auf die frühere Kanzlerin angesprochen, bekannte Beck, dass Angela Merkel für sie ein Rätsel sei. Zwar habe diese immer etwas Menschliches im Umgang mit Dissidenten gehabt. Es sei aber völlig unerklärlich, warum sie nach der Krim-Annektion noch die Nordstream-2-Pipeline habe bauen lassen. »Es wäre für uns als Gesellschaft hilfreich, wenn sie sich endlich dazu äußern würde.«
Vom Publikum gab es durchweg Zustimmung für ihre Positionen, nur ein Teilnehmer fragte, wie sie denn zu dem ukrainischen Nationalistenführer Stepan Bandera stehe, dessen Anhänger an der Ermordung tausender Juden beteiligt gewesen sind und pöbelte, bevor sie antworten konnte: »Sie sind typisch grün: ungebildet, aber von Ihren Bildungslücken hundertprozentig überzeugt«, bis ihn Unipräsident Joybrato Mukherjee mit dem Hinweis auf sein Hausrecht ruhigstellte.
Ein anderer Zuhörer erinnerte Beck an den berühmten Satz von der deutschen Sicherheit, die am Hindukusch verteidigt wird, und fragte, ob die Sicherheit Europas in der Ukraine verteidigt werde. Das bejahte Marieluise Beck ausdrücklich.
