Wo sind all die Köche hin?

Weil Mitarbeiter fehlen, bleiben Läden zu und müssen Restaurantgäste wieder gehen. Auch in Gießen werden zurzeit vielerorts Aushilfen und mehr gesucht.
Gießen . »Zu unserem großen Bedauern haben wir aufgrund von Personalmangel heute Nachmittag geschlossen« - das musste kürzlich lesen, wer sich bei der Bäckerei Braun am Marktplatz mit Brot, süßen Stückchen und Co. eindecken wollte. Inhaber Bernd Braun fehlt es an Personal und er ist damit nicht alleine. »Einer der Gründe ist immer noch Corona, ganz klar«, betont der Bäckermeister im Gespräch mit dem Anzeiger.
Die Sommerwelle geht auch an seinen Mitarbeitern nicht vorbei, teils fallen sie nach einer Infektion zwei Wochen lang aus. Das aufzufangen, sei schwierig - denn zu Corona kommen auch noch »normale« krankheitsbedingte Ausfälle und die Ferienzeit. Teils fehle dadurch knapp 20 Prozent des Verkaufspersonals.
Teil-Schließung als »Worst Case«
»Irgendwann hat man alle angerufen und dann geht es nicht mehr. Dann müssen wir schauen, welchen Laden wir nachmittags zu lassen, das ist der Worst Case.« Denn durch die Schließung gehe ihm nicht nur Umsatz verloren, auch das Image könne leiden, wenn Kunden plötzlich unerwartet vor verschlossener Tür stehen.
Dass Türen für Kunden ganz geschlossen bleiben oder die Öffnungszeiten verkürzt werden, ist derzeit kein Einzelfall und nicht auf die Bäckerbranche beschränkt. »Es ist ein größeres Problem, als mancher erkennt«, sagt Markus Pfeffer, Geschäftsführer des BID Seltersweg. »Wir haben in vielen Bereichen einfach keine Leute.« Gerade Aushilfen für leichte Verkäufertätigkeiten seien nicht zu finden. Unter Umständen müssten Inhaber daher die Öffnungszeiten anpassen. »Wir haben einen gewissen Anspruch, was die Öffnungszeiten angeht, aber den können wir in manchen Bereichen derzeit nicht erfüllen.« Das Problem besteht allerdings nicht erst seit gestern: Ein Laden im Seltersweg, der in der Vorweihnachtszeit für gewöhnlich bis zu 30 Aushilfen einstelle, habe im vergangenen Jahr lediglich 15 akquirieren können.
Besser sieht es dagegen im Schuhhaus Darré aus. »Wir sind bisher mit einer super Mannschaftsleistung gut durch die Pandemie gekommen«, betont Geschäftsführer Heinz-Jörg Ebert. Manche Kollegen jedoch hätten während der Pandemie Mitarbeitende entlassen müssen. »Wir nicht. Im Gegenteil: Wir haben die Chance gut genutzt, uns in einer veränderten Einzelhandelswelt hier und da neu zu erfinden.«
Bei Verdi Hessen hat man »nicht den Eindruck, dass im Einzelhandel Personal fehlt«, teilt Pressesprecherin Ute Fritzel auf Anfrage mit. Allerdings seien nur rund 30 Prozent der Betriebe tarifgebunden. Denkbar sei, dass Stellen aufgrund schlechter Bezahlung unbesetzt bleiben: »Im Moment kann man sich auf dem Arbeitsmarkt ja aussuchen, was man arbeiten möchte«, so Fritzel mit Blick auf den Personalmangel in vielen Branchen. Eine Ausnahme seien Frischetheken, dort fehle es an Fachverkäufern, da in der Vergangenheit zu wenig ausgebildet worden sei.
Mit seinen Löhnen sei er bereits über dem Durchschnitt, betont Bäckermeister Braun. Auch habe er während der Pandemie keine Mitarbeiter entlassen müssen. Jedoch hätten wegen Corona lange Zeit keine Praktika stattfinden können - dabei sei gerade diese Schnupperzeit beim Bäcker für den einen oder anderen der Weg zu einer Ausbildung gewesen. Das frühe Aufstehen sei bei der Nachwuchssuche schon immer ein Problem gewesen, doch dass immer mehr junge Menschen Abitur machen, erschwere die Situation für Handwerksbetriebe zusätzlich. Zwar habe er neue Kandidaten für die Ausbildung im Verkauf, es finde sich aber niemand für die Backstube. »Wo ist die Viertelmillion Menschen hin, die angeblich in der Gastronomie freigesetzt wurde?«, fragt sich Braun.
Zurück in die Gastronomie scheint es sie nicht alle gezogen zu haben. »Viele haben sich in den zwei Jahren etwas Anderes gesucht, was ich verstehen kann«, sagt Stefan Herzog, Vorsitzender des Kreisverbands Gießen-Gleiberger Land des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga). »Es wächst im Moment nichts nach oder nur ganz, ganz langsam.« Vor der Pandemie sei das anders gewesen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten selbst Kontakt zu anderen Interessenten hergestellt.
Neue Jobs in Testzentren
Aber wo sind die früheren Kellner oder Küchenhilfen nun? »Was uns definitiv geschadet hat, waren die vielen Testzentren. Da sind eine ganze Menge an Aushilfen hängengeblieben und haben dort auch mehr Geld bekommen«, so Herzog. Und wer sich während des Studiums etwas in der Gastronomie dazu verdient habe, sei nun fertig oder wegen der lange Zeit nur digital stattfindenden Lehre weggezogen.
Aber nicht nur die fehlenden Aushilfen sind ein Problem. Markus Urich, Geschäftsführer des Restaurants auf dem Schiffenberg, sucht händeringend nach Köchen. »Der Markt ist wie leer gefegt«, erzählt er im Gespräch mit dem Anzeiger. »Es ist mir ein Rätsel, wo sie alle hin sind.« Ein Teil, vermutet er, habe sich neue Stellen mit familienfreundlicheren Arbeitszeiten gesucht, etwa in Kantinen oder Krankenhäusern, oder die Branche komplett gewechselt.
Es gebe aber durchaus Köche, die als arbeitssuchend gemeldet sind - doch die würden mitunter nicht einmal zum Vorstellungsgespräch erscheinen. Urich sucht trotzdem weiter: Er hat Flyer erstellen lassen und viel Geld für Stellenanzeigen in die Hand genommen. Die Resonanz bislang: dürftig. Dabei sei die Arbeit auf dem Schiffenberg sehr attraktiv, nicht nur wegen der regelmäßigen Events. »Wir bezahlen übertariflich und stellen den Köchen sogar ein Firmenfahrzeug zur Verfügung, falls sie kein Auto haben.«
Markus Urich hofft, dass er bald neue Arbeitsverträge unterzeichnen kann - denn durch den Personalmangel habe er bereits Aufträge ablehnen oder Restaurantgäste abweisen müssen.