Wohin mit gefährdeten Kindern?

In Gießen ist es für die Mitarbeiter des Jugendamtes schwierig, standortnahe Inobhutnahme-Plätze zu finden
Gießen . Wenn Kinder oder Jugendliche wegen akuter Gefährdung aus ihren Familien genommen werden, soll es eigentlich schnell gehen - und ein passender Inobhutnahmeplatz bereitstehen. Für die Mitarbeiter im Gießener Jugendamt wird es aber immer schwieriger, eben einen solchen Platz zu finden. Das sagt Annette Berndt, Abteilungsleiterin Sozialer Dienst. »Hauptprämisse ist oft, überhaupt einen Platz zu finden und nicht nach der pädagogischen Sinnhaftigkeit.«
In der jüngsten Sitzung des Jugendhilfeausschusses gab die Abteilungsleiterin einen Überblick über die Inobhutnahmesituation in der Stadt Gießen seit 2018 und formulierte gleichzeitig Wünsche und Bedarfe: »Es ist von essenzieller Bedeutung, dass wir passende Plätze vorhalten.« Gerade für Kinder mit besonderen Bedürfnissen brauche es stabile und professionelle Strukturen.
2018 gab es in Gießen 87 Inobhutnahmen, 2021 waren es lediglich 57. Unbegleitete minderjährige Ausländer sind in diesen Zahlen nicht enthalten. Über die Gründe für den Rückgang könne sie nur mutmaßen, sagte Annette Berndt: Möglicherweise hätten während der Corona-Pandemie einige Inobhutnahmen nicht stattgefunden, obwohl sie nötig gewesen wären. Denkbar sei aber auch, dass mit den Hilfen zur Erziehung manche Herausnahme aus der Familie hätte abgewendet werden können. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl jedoch wieder an auf etwa 64. Die endgültige Auswertung für 2022 liegt noch nicht vor.
Die Hauptgründe für eine Inobhutnahme waren 2021 Anzeichen für Misshandlungen (18 Fälle) sowie Überforderung der Eltern (16 Fälle). Achtmal wurden Anzeichen für sexuelle Gewalt festgestellt, genauso häufig war »Vernachlässigung« Anlass für eine Unterbringung des Kindes außerhalb der Familie. Teils träfen mehrere Gründe pro Fall zu, sagte Annette Berndt.
Die Dauer der Inobhutnahmen variiert, jedoch waren 2021 von 57 Fällen 17 innerhalb von einer Woche beendet, weitere 14 innerhalb eines Monats. Zwei Inobhutnahmen dauerten länger als sechs Monate. 23 Kinder und Jugendliche kehrten 2021 im Anschluss an die Inobhutnahme in ihr Elternhaus zurück. Diese Zahlen zeigten, dass das Einschalten des Jugendamtes für Eltern nicht bedeute, dass die Kinder zwingend auf Dauer aus den Familien genommen würden, betonte Ausschussvorsitzender Klaus-Dieter Grothe (Grüne).
Von Gießen nach Erfurt
Dass es in Gießen an geeigneten Inobhutnahmeplätzen fehlt, zeigt auch die Übersicht der Unterbringungsorte: 2021 fanden 17 Kinder und Jugendliche im Stadtgebiet ein vorübergehendes Zuhause, 22 innerhalb des Landkreises. Fast ein Drittel wurde jedoch außerhalb des Landkreises untergebracht, ein Kind gar in Erfurt. Auch gebe es teils weitere Verlegungen während der Dauer der Inobhutnahme.
Für die betroffenen Kinder sei das »eine traumatische Situation«, betonte Annette Berndt. Bei den Inobhutnahmeplätzen müsse daher darauf geachtet werden, dass sie längerfristig zur Verfügung stehen, um Umzüge während der Maßnahme zu verhindern.
Je weiter Kind und Familie voneinander entfernt seien, desto schwieriger gestalteten sich zudem die Bemühungen für eine mögliche Rückkehr in die Familie. »Es mag auch Fälle geben, wo die Kinder weiter weg besser aufgehoben sind. Das sind aber Ausnahmen.« Gerade für Grundschüler sei es zudem wichtig, dass sie ihre vertraute Schule weiter besuchen können.
Der Jugendhilfeausschuss hat sich einstimmig für die Ausweitung des Angebotes für Inobhutnahme-Plätze ausgesprochen. Insbesondere solle ein für die Stadt »ständig zur Verfügung stehendes Angebot an ›Notplätzen‹, die durch den Bereitschafts- und Notdienst des Jugendamtes jederzeit belegt werden können, gewährleistet werden«. Zur qualifizierten Inobhutnahme von Babys und Kleinkindern soll ein entsprechendes Angebot im Bereich der Bereitschaftspflege geschaffen werden.
Annette Berndt wies zudem darauf hin, dass die Unterbringung in normalen Wohngruppen keine gute Option sei: »Es ist eine hohe Belastung, ein Kind aus einer solchen Krisensituation heraus zu integrieren.« Auch für die Mitarbeiter in den Wohngruppen sei die Aufnahme eines Inobhutnahme-Kindes schwierig zu händeln.