Wohnbau mit neuem Gesicht

Seit 2020 leitet Dorothee Haberland die Wohnbau Gießen. In dieser Zeit hat sich das Unternehmen stark verändert.
Gießen. (olz) Auch wenn der Klimaschutz in der öffentlichen Wahrnehmung aktuell oft einen Spitzenplatz einnimmt, gehört der Wohnungsbau nach wie vor ebenfalls zu den wichtigsten politischen Themen in der Stadt. Die Wohnbau nimmt dabei gerade im Bereich des bezahlbaren Wohnraums eine wichtige Rolle ein. Wie hat sich das Unternehmen in den letzten Jahren entwickelt? Wird es seinen Aufgaben gerecht? Im Interview mit dem Anzeiger erläutern Geschäftsführerin Dorothee Haberland und Aufsichtsratsvorsitzender Francesco Arman von der »Gießener Linken« die aktuelle Situation der kommunalen Wohnungsgesellschaft.
Hat sich das Gesicht der Wohnbau in den letzten Jahren verändert?
Dorothee Haberland: Es hat sich entscheidend verändert. 2020 habe ich recht bald festgestellt, dass die Wohnbau vor sehr großen Herausforderungen steht. Einerseits haben wir den Auftrag, die Gießener Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum zu versorgen. Andererseits steigen die Kosten im Moment noch stärker als in den Vorjahren. Unsere Miete ist sehr moderat. Ungefähr 45 Cent liegt sie unter den Durchschnittsmieten vergleichbarer Unternehmen in Hessen und Rheinland Pfalz. Das klingt zunächst nicht so viel. Multipliziert man aber mit zwölf und 450 000 Quadratmetern Wohnfläche, dann reden wir über rund 2,5 Millionen Euro im Jahr, die wir an Einnahmen nicht generieren können.
Was bedeutet das?
Haberland: Das heißt: Die Balance zu halten zwischen weiterhin bezahlbaren Mieten und steigenden Kosten. Hinzu kommt die große Aufgabe, neu zu bauen und unseren Bestand energetisch zu sanieren. Deshalb war sehr schnell klar, dass wir uns als Wohnbau anders aufstellen müssen. Wir müssen uns besser organisieren, effizienter arbeiten, transparenter sein. Das haben wir alles zum Anlass genommen und schon 2021 sehr viele Veränderungsprojekte gestartet.
Wie sehen die aus?
Haberland: Die Besonderheit ist, dass unsere Projekte ausschließlich von Mitarbeitern geleitet werden. Sie gestalten das Unternehmen neu. Wir haben einen Steuerkreis, in dem regelmäßig über die Projekte berichtet und entschieden wird. Inhaltlich geht es um Organisation, neue Baustandards, viele IT-Projekte. Das Kundencenter und das neue Logo sind im Prinzip nur das Zeichen nach außen. Dahinter stecken verbesserte Abläufe, um unsere Aufgaben überhaupt leisten zu können.
Was sind denn die vordringlichen Aufgaben?
Haberland: Die Hauptaufgabe der Wohnbau ist Daseinsvorsorge im Bereich Wohnen. In den letzten Jahren kam das Neubauprogramm hinzu, das die Wohnbau natürlich nicht alleine stemmen muss. Es gibt noch mehr Player, aber wir sind der Hauptakteur. Das Wohnraumversorgungskonzept hat schon 2016 deutlich gemacht, dass in der Stadt rund 400 neue Sozialwohnungen nötig sind. Parallel dazu müssen wir die Klimaschutzziele erreichen, die in Gießen besonders ambitioniert sind und zehn Jahre unter den Bundeszielen liegen.
Welche Bedeutung hat die Konsolidierung der Wohnbau?
Haberland: Als ich die Wohnbau übernommen habe, waren von den geplanten 400 Wohnungen 24 Wohnungen realisiert. Wir wissen heute durch ein modernes Portfolio-Management, dass 50 Prozent unseres Bestandes unsaniert sind. Mein Ziel war es, das Unternehmen von der Struktur, den Abläufen, vom Know-how der Mitarbeiter, von den Aufgabenverteilungen, aber auch von den Baustandards und unserer Wirtschaftlichkeit her so zu organisieren, dass wir künftig nicht mehr Regionalbahn, sondern ICE fahren. Also war erst einmal - bildlich gesprochen - Gleisbau erforderlich. Wir haben uns neu aufgestellt, um jetzt mehr und schneller bauen zu können und die Prozesse rund um unsere Kundenbetreuung effizienter zu machen, damit wir zum Beispiel besser erreichbar sind.
Francesco Arman: Ich nehme die Wohnbau, gerade nach der Konsolidierung, als starke Partnerin für die Politik wahr. Die Neuaufstellung war wichtig. Denn wir wollen uns gemeinsam Ziele stecken und sie verwirklichen.
Gießen will 2035 klimaneutral sein. Wo steht die Wohnbau aktuell und was ist noch zu machen?
Haberland: Eines unserer Veränderungsprojekte heißt »Aufbau eines Portfolio-Managements«. Was heißt das? IT-unterstützt haben wir unseren ganzen Bestand technisch analysiert und jedes unserer 428 Gebäude erfasst. 228 davon sind ungedämmt. Das ist etwa die Hälfte des Bestandes. Natürlich hat jedes Haus einen anderen Sanierungsstand. In manchen sind bereits die Bäder saniert, manche sind gedämmt, manche sind komplett modernisiert. Aber ein Großteil der Modernisierungsaufgaben liegt noch vor uns. Deshalb sind wir momentan dabei, eine Klima-Strategie und langfristige Planung zu erarbeiten. Was können wir organisatorisch und finanziell in der Modernisierung unseres Bestandes bis 2035 leisten?
Wie steht es aktuell um die Bauaktivitäten?
Arman: Um die Frage auf die Sanierung und 2035 zu beziehen. Wir haben uns ein politisches Ziel gesteckt. Ich sehe das aber als Prozess. Wir müssten genau betrachten, in welchen Bereichen wir was konkret und sinnvoll umsetzen können. Nicht alles ist auf einmal leistbar. Das Ziel ist der Prozess 2035Null. Auf diesen Weg machen wir uns.
Neben dem Ziel der Klimaneutralität steht das Ziel, pro Jahr 150 neue Sozialwohnungen zu bauen. Ist das finanziell leistbar?
Arman: Dafür muss natürlich Geld in die Hand genommen werden. Das ist ganz klar. Natürlich gibt es Neubauvorhaben, die wir umsetzen. Aber im Koalitionsvertrag haben wir auch festgehalten, dass wir Wohnungen in die Bindungen holen. Denn irgendwann ist auch Gießen zugebaut. Dann gibt es keine großen Flächen mehr, auf denen man bauen kann.
Haberland: Bis nächstes Jahr wollen wir 70 Wohnungen aus dem Bestand in die Bindung nehmen. Bei 30 davon ist das bereits erfolgt.
Wie steht es um die aktuellen großen Bauprojekte im Gebiet »Am alten Flughafen«, in der Weserstraße und auf der Philosophenhöhe?
Haberland: Das nächste Projekt, das wir umsetzen, ist »Am alten Flughafen«. Dort entstehen 39 Wohnungen. Wir hätten schon mit dem Bau angefangen, wenn wir das aktuelle Fördermittelchaos nicht hätten. Wir haben nun eine Finanzierungslücke bei dem Projekt. Durch den Stopp der KfW-Förderung ändern wir die Planung nochmals auf Standard KfW40 mit Nachhaltigkeitsklasse. Zum Nachweis müssen wir 60 Steckbriefe erarbeiten. Wir sind gerade dabei, können aber nicht sagen, ob uns das gelingt. Den Klimabonus des Landes Hessen wir leider nicht erhalten, weil unsere Neubaumaßnahmen bereits angemeldet wurden. Wenn wir den Bonus oder die KfW-Zuschüsse nicht beanspruchen können, haben wir eine sehr große Förderlücke.
Arman: Natürlich sind wir bereit, die Wohnbau zu unterstützen. Innerhalb der Koalition laufen bereits Gespräche, um der Gesellschaft finanziell bestmöglich zu helfen.
Sanierung oder Neubau: Worauf liegt aktuell der Fokus?
Haberland: Auf beidem. Wir haben unsere Baustandards in der Modernisierung geändert. Wir modernisieren jetzt ganzheitlich, also innen und außen. Dafür haben wir den energetischen Standard etwas reduziert, da die Energieeinspareffekte nicht proportional zur Stärke der Dämmung sind.
Welche Projekte meinen Sie konkret?
Haberland: Wir sind momentan dabei, fünf Modernisierungsprojekte umzusetzen. Am Nahrungsberg zwei Projekte, in der Steinstraße zwei Projekte, in der Möserstraße ein Projekt. Die Modernisierung in der Grünberger Straße haben wir gerade abgeschlossen. Hier ziehen momentan die ersten Mieter ein. Wir bereiten ganz aktuell drei Projekte vor, bei denen wir nächstes Jahr den Baubeginn planen. Das sind Objekte in der Carl-Franz-Straße, Dürerstraße und Spitzwegring. Parallel dazu haben wir ein sehr umfangreiches Balkonprogramm. Wir ersetzen momentan rund 130 marode Holzkonstruktionen durch Vorstellbalkone aus Aluminium. Trotz Unsicherheiten und Förderchaos beginnen wir im nächsten Jahr baulich den Alten Flughafen und die Weserstraße. Gefolgt von der Philosophenhöhe. Dort möchten wir uns einen Partner suchen, mit dem wir eventuell in einer seriellen und/oder modularen Bauweise bauen können, um dieses Projekt zügig umzusetzen.
Welche Rolle spielt der Ankauf von Belegungsbindungen?
Arman: Für mich spielt das eine ganz große Rolle, weil wir damit auch qualitative Merkmale setzen wollen. Uns ist es ganz wichtig, dass die Wohnbau weiterhin eine soziale Partnerin bleibt und dass die Daseinsfürsorge Menschen zugute kommt, die keinen großen Geldbeutel haben. Das ist unser Auftrag.
Welche Rolle spielen die privaten Investoren für den sozialen Wohnungsbau in der Stadt?
Arman: Die Sozialquote ist unser kommunalpolitisches Werkzeug, mit dem wir eingreifen können. Davon machen wir auch Gebrauch.
Wie steht die Wohnbau aktuell wirtschaftlich da?
Haberland: Wir stehen in 2022 besser da als in 2019. Wir haben unsere Finanzkraft durch verschiedene Maßnahmen, zum Beispiel eine Veränderung unserer Finanzierungsphilosophie, gestärkt. Außerdem möchten wir durch veränderte Standards die Baukosten reduzieren. Und dennoch bleibt der Spagat zwischen moderaten Mieteinnahmen einerseits und immer höheren Kosten andererseits unsere größte Herausforderung.
Fotos: Wohnbau Gießen

