Wut, Trauer und ein Misston

Viele Redner verurteilen am Jahrestag in Gießen Putins Krieg - das deutsch-russische Zentrum kam aber nicht zu Wort
Gießen . Ein trauriger Jahrestag war Anlass der mit rund 250 Teilnehmern bislang größten Demonstration von Ukrainern in Gießen. Viele von ihnen sind nicht freiwillig gekommen, sondern vor dem Krieg geflohen, mit dem Wladimir Putin am 24. Februar 2022 den kleineren Nachbarn überzog. Das nahmen zahlreiche Redner zum Anlass Stellung zu beziehen. Den Anfang machte Gießens grüner Bürgermeister.
Es sage sich so leicht, dass Menschen ihr Hab und Gut, ihr Zuhause, einen geliebten Menschen verloren hätten. Doch die Ukrainer hätten nichts verloren, es wurde ihnen genommen und zwar von Putin und dessen angstzerfressener und blinder Gefolgschaft. »Wir sollten häufiger den Mut haben, Dinge beim Namen zu nennen«, betonte Alexander Wright. Dass Russland das Ziel westlicher Angriffe und der Angriffskrieg nur eine »Spezialoperation« sei, sei die größte Lüge. In Wahrheit führe Putin einen Krieg gegen die westliche Lebensweise, gegen die freie Meinung und gegen die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Wright kritisierte, dass »Schwurbler« von Zensur und Propaganda in Deutschland sprächen, obwohl die Rede des russischen Präsidenten in Deutschland live ausgestrahlt worden sei - man in Russland aber nicht einmal das Wort »Krieg« in den Mund nehmen dürfe. Wright dankte den haupt- und ehrenamtlichen Helfern, die sich im vergangenen Jahr für die ukrainischen Flüchtlinge stark gemacht hätten und so die Botschaft ausgestrahlt hätten: Ihr seid sicher und willkommen.
Hart ins Gericht mit einer, seiner Auffassung nach, allzu zögerlichen Bundesregierung ging Nikolai Davydov vom FDP-Nachwuchs. Das Zögern Deutschlands ziehe sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte dieses Krieges. Hätte man von Beginn an entschlossen schwere Waffen geliefert, könnten viele Menschen noch leben, meinte Davydov. Man müsse der Ukraine endlich jede Unterstützung schicken, die sie benötigt, und nicht nur soviel, dass es gerade genug zum Überleben sei.
Noch eine Spur deutlicher wurde der Ukrainer Chris Genzel. Er warf Gegnern von Waffenlieferungen vor, aus purem Zynismus den Status Quo zu akzeptieren, als sei es normal, dass Krieg in der Ukraine sei. »Lasst euch von Rattenfänger wie Sahra Wagenknecht und der AfD nichts einreden«, rief er. »Diese Leute machen für Russland Politik und nicht für euch.« Genzel forderte die deutsche Rüstungsindustrie auf, ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, damit die Panzer »wie vom Fließband« rollen. Seine Rede schloss er auf Lateinisch in Anspielung auf eine bekannte Redewendung eines altrömischen Politikers mit den Worten: »Im übrigen bin ich der Meinung, dass Russland zerstört werden muss.«
Das rief die Mitorganisatorin Polina Turiyanskaya auf den Plan, die sichtlich erregt zum Mikro griff. »Wir dulden hier keine Gewaltaufrufe, auch nicht auf Latein.«
Im Vergleich zu seinen beiden Vorrednern sachlich war der Redebeitrag vom Vorsitzenden des Kreisausländerbeirats. Tim van Slobbe. Er erinnerte an die einschlägigen Regeln des Völkerrechts, gegen die Russland in voller Absicht verstoßen habe. Die Ukraine habe damit jedes Recht sich zu verteidigen. Als Ausländerbeirat solidarisiere man sich mit den Opfern dieses völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges und spreche diesen seine Unterstützung aus. Er mahnte die Menschen im Kreis und die Verantwortlichen in der Verwaltung, Flüchtlingen aus anderen Ländern die gleiche Unterstützung zukommen zu lassen, wie den Ukrainern.
Einfühlsame Worte fand Oleksandra Nychyporchuk vom psychosozialen Dienst nach einer Schweigeminute für die Opfer des Krieges, die Ermordeten, Geschändeten und Verletzten, die Gefangenen, Vermissten und deren Familien. Der Winter für die Ukraine halte nun schon ein ganzes Jahr an, sagte sie. Ein Winter, der unglaublich kalt, grausam und zermürbend sei. Den grausamen Taten Russlands müsse die Ukraine Stärke und Menschlichkeit entgegensetzen. Aber: »Wir bezahlen mit menschlichen Leben für jeden neuen Tag«.
Noch eine weitere Rede war vorbereitet worden. »Wir sind für Euch da! Wir werden Euch weiterhin helfen. Wir Europäer werden uns weiter für Vielfalt, Toleranz und Menschenrechte einsetzen«, wollte Olga Royak vom deutsch-russischen Zentrum sagen, doch die Veranstalter konnte sich nicht einigen, Royak eine Bühne zu geben.
