Zwei Leben für die eigene Sprache
Gießen (bj). Die Literatur spielt eine entscheidende Rolle für die Kultur und Identität eines jeden Volkes. Dies gilt umso mehr, wenn sogar die gesprochene Sprache von der Mehrheitsgesellschaft unterdrückt wird. Die Kurdische Gemeinde Deutschlands (KGD) hat sich daher entschieden, einen zweijährig zu vergebenden Literaturpreis ins Leben zu rufen, mit dem die wichtigsten Autoren ihrer Sprache ausgezeichnet werden sollen.
Zum Auftakt im Hermann-Levi-Saal wurden am Wochenende zwei große alte Männer geehrt, die Bedeutendes für die kurdische Literatur geleistet haben. Es war ein stimmungsvoller, von mehreren kurdischen TV-Sendern begleiteter Abend, zu dem Besucher aus ganz Deutschland und darüber hinaus kamen, und der zugleich die Tragik der Kurden deutlich machte - des weltweit größten Volks ohne eigenen Staat.
Geehrt wurden an diesem Abend Prof. Celîlê Celîl, der 1936 im damals noch sowjetischen Jerewan (heute Armenien) geboren wurde. Der Historiker und Schriftsteller habilitierte 1991 in Moskau und ging nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums nach Wien, wo er fortan viele Jahre Sprachwissenschaften lehrte. Celîl hat mehr als 70 Bücher geschrieben und sich auch um die Überlieferung kurdischer Literatur und Märchen verdient gemacht.
Das Preisgeld von 5000 Euro teilt er sich mit Dr. Eskerê Boyîk, 1941 ebenfalls im heutigen Armenien geboren und über Kasachstan in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen. Er lebt heute in Oldenburg. Auch Boyîk hat sich als Dichter, Wissenschaftler und Publizist über Jahrzehnte um die kurdische Sprache verdient gemacht. 2012 gründete er das Forschungszentrum für Jesidologie, das sich zu einem Zentrum für kurdische und jesidische Kultur entwickelt hat.
Boyîk wies in seiner Dankesrede in emotionalen Worten im Besonderen auf das Schicksal der zur kurdischen Volksgruppe zählenden Jesiden hin, die immer wieder von Vertreibungen und Mord heimgesucht wurden - zuletzt durch die Terrorgruppe »Islamischer Staat« in Syrien. Er erklärte, ein kulturschaffender Kurde zu sein, »bedeutet Exil, bedeutet, das Leben zu opfern«. Ali Ertan Toprak, der Berliner Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschlands, erklärte anschließend ergriffen, »ich möchte mich an dieser Stelle vor der Leidensgeschichte des jesidischen Volks verneigen«.
Der als Gastgeber fungierende Mehmet Tanriverdi, Vorsitzender der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft Gießen, sah in seiner Rede einen »historischen Moment für uns Kurden, hier unsere Kultur feiern zu dürfen«. Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher bezeichnete es in seinem Grußwort als »Ehre für die Stadt Gießen«, als erste für die Verleihung des Literaturpreises ausgewählt worden zu sein.
Am Ende sangen die meisten Menschen im Publikum gemeinsam mit dem Musiker Nizamettin Aric eine kurdische Hymne, in der es übersetzt heißt: »Ich weiß, der kurdische Staat wird kommen«.