Zwischen den Welten

Manchmal lässt sich mehr vom Geschehen im Zentrum erkennen, wenn man vom Rand aus darauf blickt. Und randständiger als das Albanien vor dem Fall des Eisernen Vorhangs war es in ganz Europa nicht. Der kommunistische Diktator Enver Hoxha hatte das Land nach dem Zweiten Weltkrieg komplett isoliert und in bitterste Armut geführt. Lea Ypi ist 1979 in der albanischen Hauptstadt Tirana geboren und in der Hafenstadt Durrës aufgewachsen, mittlerweile lehrt sie Politische Theorie an der London School of Economics.
In ihrem Buch »Frei« erzählt sie nun auf grandiose Weise vom Leben in beiden Welten, deren Gegenüberstellung zu einem Schlüssel im Verständnis der Entwicklung ganz Osteuropas wird.
Blickwinkel des Kindes
Als Chronistin ihrer Familiengeschichte wendet die Schriftstellerin einen effektvollen Trick an. Ypi nimmt die Position der kleinen Lea ein, um das Leben in diesem seltsamen, abgeschotteten Land aus deren Blickwinkel zu schildern. Und so beklagt sie nicht Propaganda, Bespitzelung und die unglaubliche Armut, in der ihre Familie lebt, weil sie es schlicht nicht anders kennt. Stattdessen sorgt schon eine leere Coladose für ein kleines Glücksgefühl, das seltene Stück Blech wird in eine Blumenvase auf dem Küchentisch umfunktioniert. Was Lea vom Leben weiß, kommt von ihren Lehrern, deren Indoktrination sie nicht von der Realität unterscheiden kann. »Wir wussten, wir hatten nicht alles, aber wir hatten genug; wir hatten alle das Gleiche und vor allem das, worauf es ankam: wahre Freiheit.« So nahmen es das Mädchen und seine Freunde tatsächlich wahr.
Doch alles ändert sich, als mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch in Albanien plötzlich eine neue Zeit eintritt. Hoxha ist 1985 gestorben, nun werden die Machthaber der betonstalinistischen Nomenklatura gestürzt und eine ganz neue, im Wortsinn grenzenlose Freiheit scheint möglich.
Doch damit verschwinden auch alle Gewissheiten, die sich das Mädchen zurechtgelegt hat. Das zeigt sich etwa an ihren Eltern, die nun nicht mehr verklausuliert sprechen, wenn sie sich über Politiker, Arbeitgeber, Nachbarn austauschen. Und das Mädchen beginnt zu begreifen, dass ihm seine Eltern die Wahrheit über all die Jahre vorenthalten haben - um sie und sich selbst zu schützen. Eine Erkenntnis, die dazu führt, dass Lea Ypi nun beginnt, »nach den richtigen Fragen zu suchen«. Sie entdeckt, dass ihre Familie einem großbürgerlichen Milieu entstammt, dass die Großeltern und der Vater politische Häftlinge waren und die Familie aufgrund ihres Urgroßvaters Xhafer Ypi - einem einstigen Ministerpräsidenten, im Albanien Enver Hoxhas als Klassenfeind galt.
Die Regeln des Lebens waren nun neu zu erlernen, nicht nur für das Mädchen - sondern das ganze Land. So widmet sich die Schriftstellerin im zweiten Teil des Buchs den umwälzenden Umbrüchen, die viele Parallelen zu denen ganz Osteuropas und in Teilen auch der ehemaligen DDR erkennen lassen. »1990 hatten wir nichts außer Hoffnung. 1997 hatten wir selbst die verloren«, bilanziert sie bitter. Denn aus alten Worthülsen wurden nun neue. Statt »Kollektivierung« hieß es nun »Privatisierung«, statt »Selbstkritik« nun »Transparenz«. Die vom Westen versprochene Freiheit endete schon an den Häfen Italiens, in denen die ungebetenen Neuankömmlinge in Camps gesperrt wurden. Und Europa wurde so »zu einem »langen Tunnel, dessen Eingang von hellen Lichtern und blinkenden Zeichen erleuchtet wurde, wer drinnen war, konnte zunächst wenig erkennen.« Das Kartenhaus brach 1997 in einer blutigen Revolution zusammen.
Was daraus resultierte, war häufig Enttäuschung, bisweilen Verbitterung und manchmal auch Aggression: der grassierende Rechtspopulismus hat hier eine bis heute fließende Quelle, wie dieses packend geschriebene Buch anschaulich sichtbar macht.
Lea Ypi: Frei. 332 Seiten. 28 Euro. Suhrkamp.