Zwischen den Zeiten

Der aus der Oberlausitz stammende Lukas Rietzschel stellte seinen kunstvoll erzählten neuen Nachwende-Roman auf Einladung des LZG in der Europaschule Lollar vor.
Lollar. »Raumfahrer« ist eigentlich nicht nur ein Roman, »sondern es sind gleich mehrere: Es ist ein Zeitporträt nach der deutsch-deutschen Wende, ein Familiendrama und ein Künstlerroman zugleich«, fasste Moderatorin Dr. Kirsten Prinz das Buch von Lukas Rietzschel treffend zusammen. Der 28-Jährige war am Donnerstagabend als Gast des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) in die Stadt- und Schulmediothek der Clemens-Brentano-Europaschule in Lollar gekommen, um sein 2021 erschienenes Werk vorzustellen.
Im 2021 publizierten Roman »Raumfahrer« verknüpft Rietzschel die Geschichte des Krankenpflegers Jan Nowak mit einer Familiengeschichte rund um den berühmten, 1938 in Sachen geborenen Georg Baselitz. Wie schon in seinem Debüt spielt der Roman in der Oberlausitz, der Heimat des Autors. Rietzschel, der 2022 den sächsischen Literaturpreis erhielt und in diesem Jahr ein Stipendiat in der bekannten Künstlerresidenz Villa Aurora in Los Angeles beginnen wird, arbeitet dabei mit zahlreichen Auslassungen und Zeitsprüngen, vermischt Fiktion mit Realität und erzählt die Geschichte seiner Figuren nicht chronologisch, sondern parallel.
»Es gibt einen realen Hans-Georg Kern, so der bürgerliche Name von Georg Baselitz, aber natürlich sind Handlungsort und Personen verformt, Biografien dramatisiert«, schilderte der in Görlitz lebende Schriftsteller seine Herangehensweise. Die Story ins Rollen bringt ein unauffälliger Karton. Den bekommt Jan von einem Patienten überreicht, der mit der Familie Kern in Verbindung steht. Der Inhalt ist brisant und enthüllt anhand von alten Dokumenten, Briefen und Urkunden die Verbindung und gemeinsame dunkle Vergangenheit der beiden Familien.
»Der Roman ist dabei aufgebaut wie dieser Zettelkasten, der zunächst unsortiert erscheint. Erst wenn man jeden Hinweis und jede Notiz gelesen hat, ergibt sich ein rundes Gesamtbild. Wir arbeiten uns mithilfe des Kartons auch durch Erinnerungen und Zeitsprünge«, erklärte Rietzschel. Neben dem Familien- und Künstlerdrama zeichnet »Raumfahrer« auch ein nostalgiefreies Porträt der verödeten sächsischen Provinz - was bereits auf dem eigens gemalten Buchcover zu erahnen ist: eine triste Ackerlandschaft, in deren Hintergrund sich der Handlungsort erstreckt. »Es hat etwas faszinierendes, aber auch trauriges an sich, diese leeren Wohnblöcke und verwaisten Landschaften. Viele Menschen sind nach der Wende weggezogen und nie wieder zurückgekommen. So haben wir eine seltsame demografische Verschiebung, viel mehr alte als junge Menschen. Die Zukunft fehlt ein wenig«, stellte Rietzschel fest und schlug damit die Brücke zur Realität.
» In Hoyerswerda war die Länge der Stadt die Länge des Hauses. Dann ein Kreisverkehr, dann ein weiterer Block. Immer so weiter, bis an den Horizont. In der Schule hatte mal jemand das Wort ,Wolkenkratzer‘ gesagt. Jan hatte sich darunter nichts vorstellen können, aber das Wort bliebt, begleitete ihn. Und dann sah er Hoyerswerda. So weit oben noch Sonnenschirme und kleine Menschenköpfe .« So beschreibt der Roman die belebtere Zeit der DDR-Planstadt.
Heutzutage sind von den einst 70000 Einwohnern noch knapp 30000 übrig. Eine Stadt zwischen blühender Vergangenheit und trauriger Gegenwart. Und genauso verhält es sich auch mit dem Titel von »Raumfahrer«. Ihn bezieht Rietzschel nicht auf einen Astronauten, sondern auf einen Menschen, der genau »zwischen diesen Zeiten feststeckt«. »Es geht um Menschen, die keine Heimat haben, nirgendwo hin passen. Ein Mensch, der in der Leere schwebt, den Halt verloren hat. Ich will den Bogen zwischen Nachkriegs- und Nachwendebetrachtung spannen und zeigen, dass das nicht nur ein DDR-Roman ist, sondern eine Geschichte und ein Problem, welches sich schon ewig durch die Gesellschaft zieht«.
So sei »Raumfahrer« die »logische Entwicklung« nach »Mit der Faust in die Welt schlagen« von 2018. »Dort fehlten den erwachsenen Hauptakteuren die Sprache, um emotional und offen miteinander zu sprechen.« »Raumfahrer« sei der Versuch, da anzusetzen und aufzuzeigen, dass die Generationen ihre Wunden noch nicht verarbeitet haben.« Zu Rietschels Debütroman ist mittlerweile ein Kinofilm geplant und auch »Raumfahrer« bietet Stoff für die Leinwand.
